Februar 2020
von Marco Hoffmann
Unsere Projektreise 2020 fand vom Samstag 1. Februar bis Sonntag 16. Februar statt. Über den Ozean sind Claude Schweich und ich selbst mit Air France geflogen, 14 Stunden Paris – Santiago de Chile. Von Santiago ging es sonntags gleich weiter nach Temuco zu FUNDECAM, der ersten von vier Partnerorganisationen, die wir während unserer Reise begegnen wollten.
Tag 2 – 02/02/2020: Temuco
– Willkommenstreffen um 17:00 Uhr in den Büroräumen von FUNDECAM, mit Roberto Mansilla (Geschäftsführer), Lorena (Präsidentin), Gonzalo (Vorstandsmitglied) und Pricilla (Sekretärin).
Temuco ist zugenagelt. Die Erdgeschosse und Vitrinen in den Einkaufsstraßen sind mit Holz- oder Blechverkleidungen verbarrikadiert. Gerade am Sonntag, bei unserer Ankunft, sind sehr wenig Leute in den Straßen. Die 300 000 Einwohner-Stadt ist wie tot und wir haben Mühe, am Abend ein offenes Restaurant zu finden.
TAG 3 – 03/02/2020: Temuco
– am Morgen: Besuch der Mapuche-Gemeinschaften Juan Acuite und Juan Secundo Marilun de Vilcun
Die Frauen zeigen uns ihre Handarbeiten, Stickereien, Malereien, Töpfereien sowie Tapenaden aus lokalen Pflanzen und Pimenten. Alle Aktivitäten erlauben es, die Produkte zu verkaufen und ein kleines Einkommen zu sichern. Einige Frauen sind Imkerinnen und verkaufen ihren Honig. Bei einem Austausch mit Mapuche-Gemeinschaften in Argentinien haben sie sich das notwendige Know-how angeeignet. Ein Teil der Gewinne wird auf ein Gemeinschaftskonto eingezahlt und dient dazu, neue Mikrokredite zu gewähren.
Die Leute waren am Anfang sehr skeptisch, was das Projekt betrifft, sagen uns aber in der Versammlung, dass sie noch heute überrascht sind, wie positiv sich das Ganze entwickelt hat. Sie freuen sich, uns kennenzulernen und der Lonqo, der Chef der Gemeinschaft, hebt hervor, dass noch nie jemand sie besucht hat und auch sonst kaum einer sich für sie interessiert. Die exzellente Arbeit von FUNDECAM im Rahmen unseres Projektes und unserer Finanzierung hat sich wieder bestätigt und die Dankbarkeit der Leute ist groß und nicht gespielt.
– am Nachmittag: Besuch der Gemeinschaften José Miguel Borne und Juan Carriman de Vilcun
Wir können wiederum feststellen, wie eng unsere Partnerorganisation FUNDECAM mit den Gemeinschaften verbunden ist. Der Austausch findet auf Augenhöhe statt und die Leute legen zum Teil sehr emotionale Zeugnisse ab. Der Präsident der Junta de Vecinos berichtet auch vom gemeinsamen Bankkonto der Gemeinschaft und wie somit immer mehr Leute vom kooperativen System profitieren können. Dieses System ist die Weiterentwicklung des „fondo rotatorio“, der über das Niti-Projekt finanziert wurde (quasi ein Mikrokredit mit Anschubsfinanzierung, der ausschließlich der Verbesserung der Produktion zu dienen hat und nur zur Hälfte zurückgezahlt werden muss). Ein gutes Beispiel nachhaltiger Entwicklung!
Eine Frau lädt uns zu sich nach Hause ein. Sie und ihr Mann haben einige Jahre in Santiago in diskriminierenden Verhältnissen arbeiten und leben müssen. Sie ist heute stolz, Mapuche zu sein und als Imkerin kann sie einen Teil des Haushaltseinkommens bestreiten. Daneben betreibt sie noch einen kleinen Dorfladen. Sie und ihr Mann haben eine Ruka, einen traditionellen Versammlungsraum, für die Gemeinschaft gebaut.
Zum Schluss noch eine Überraschung, als ihr Mann, am Ausgang des Gebietes der Gemeinschaft, auf uns wartet, um uns kennenzulernen und noch einen Topf Honig zu schenken.
TAG 4 – 04/02/2020: Temuco
– am Morgen: Besuch des Jardín Infantil Pewma Rayen
Der Kindergarten vermittelt den Kleinen die Mapuche-Kultur. Die exzellente Ausstattung und die pädagogischen Qualitäts-Standards machen Pewma Rayen zu einem Vorzeigekindergarten. Wir sind beeindruckt.
– nachmittags: Temuco
– Evaluationsversammlung mit dem FUNDECAM Team
Die Mapuche-Projekte sind die einzigen Niti-Projekte, die ich nur vom Papier her kenne. Für Claude und Yvette sind sie jedoch schon über 20 Jahre lang eine Herzensangelegenheit. Der Besuch vor Ort hat mich dann auch vollends überzeugt. Die Armut ist allgegenwärtig. Den Familien ist ein Hektar Land zugeteilt, das genügen muss, um sie zu ernähren. Wasserrechte haben sie keine. Es ist eine neoliberal organisierte Armut, an der sich auch der chilenische Staat beteiligt. Die chilenische Fischerei z.B. ist in der Hand von 7 Familien, deren Mitglieder natürlich auch politische Ämter innehaben. Oder: Der Gesundheitsminister Chiles ist Unternehmer. Ihm gehören mehrere Privatkliniken im Land. Öffentliche Gesundheit ist natürlich ein Fremdwort für diesen Mann. Einige Tage später erzählt uns ein Taxifahrer, dass er seinen Bruder mit einer akuten Blinddarmentzündung aus einem öffentlichen Krankenhaus in eine Privatklinik transferiert hat und dies ihm das Leben gerettet hat. Sein Fazit: Wenn du in Chile krank bist und kein Geld hast, bist du tot!
Hinzu kommt, dass die Mapuche ungerechterweise kriminalisiert werden. Die Mapuche werden als Sicherheitsrisiko betrachtet. Die Geheimpolizei kontrolliert Grenzen im Mapuchegebiet und stellt Informanten gratis Mobiltelefone zur Verfügung. Während der Unruhen waren die Mapuche ein beliebtes Ziel polizeilicher Interventionen. Das Leben ist hart für diese Leute und die Frage muss gestellt werden, wie es denn hier mit dem Recht auf gutes Leben für alle und mit den Menschenrechten steht?
Abends fliegen wir zurück nach Santiago. Ein gemeinsames Essen mit unserem Freund Pater Julien Braun steht auf dem Programm und vegetarische Bedenken sind fehl am Platz.
TAG 5 – 05/02/2020: Reisetag
Um 03:00 Uhr in der Nacht müssen wir aufstehen, um über La Paz nach Cochabamba zu reisen, wo wir gegen Mittag ankommen. Wir werden von Sr Mercedes, der Direktorin der Fundación Cristo Vive Bolivia, zusammen mit Tilme und ihrem Team sowie einigen Kindern aus Tirani sehr herzlich am Flughafen mit Unmengen an Blumen empfangen. Allerdings soll es erst in zwei Tagen in Tirani weitergehen, das war so geplant. Den Nachmittag halten wir uns frei, um eine kleine Siesta im Hotel zu machen, mental etwas abzuschalten und nach Hause zu schreiben. Um 19:00 Uhr treffen wir Martine Greischer (Projekt Trabajo Digno) zu einem gemeinsamen Abendessen. Das Restaurant Marvinos ist empfehlenswert und der Pisco Sour hervorragend. Martines Projekt läuft gut. Sie ist Feuer und Flamme, wenn sie davon erzählt. Im Wesentlichen berät ihr Team Angestellte und Selbstständige z.B. VerkäuferInnen am Straßenrand oder auf dem Markt in rechtlichen oder betriebswirtschaftlichen Fragen.
Zweck ihres Dienstes ist es aber auch, das bestehende Arbeitsrecht zu verbessern bzw. bekannt zu machen, damit es auch genutzt wird. Kinderarbeit ist ein weiteres Thema.
Wir staunen nicht schlecht, dass Martine und Katty, unsere Übersetzerin für die nächsten Tage, sich schon kennen. Katty Cerny ist Schweizerin, hat einige Jahre bei unserer Partnerorganisation Anawin gearbeitet, wo wir sie auch kennengelernt haben. Katty ist mit einem Bolivianer verheiratet und betreibt zusammen mit ihrem Mann eine Touristenagentur in Cochabamba. Der Kontakt zu Martine kam über die Kinder zustande, die in der gleichen Schule und Klasse sind und plötzlich festgestellt haben, dass sie auch Deutsch miteinander reden können.
TAG 6 – 06/02/2020: Cochabamba
– Abfahrt um 08:00 in Richtung Altiplano.
Wir wollen 3, vielleicht auch 4 indigene Gemeinschaften besuchen, die an einem unserer Hauptprojekte „Verbesserung der Lebensmittelsicherheit in der Region Chapisirca“ (Gemeinde Tiquipaya), unter der Regie von ANAWIN, teilnehmen. In den letzten Wochen hat es viel geregnet und die Wege sind nicht optimal. Wir sind zu sechs unterwegs: Katty, Claude und ich, mit Rodrigo, dem Direktor von Anawin am Steuer, unseres Geländewagens. Im zweiten Jeep fahren Agustin und Oskar, die zwei Agronomen, die für die Ausführung unseres Projektes eingestellt wurden. Wir kennen die Strecke von früheren Besuchen und die Fahrt bereitet erstmal keine Probleme. Allerdings haben Claude und ich das Gefühl, noch mehr durchgerüttelt zu werden als sonst. Geplant sind 3 Stunden Hinfahrt, 3 Stunden Besuchszeit, 3 Stunden Rückfahrt.
Die indigenen Gemeinschaften Corral Pampa, Quatro Esquinas und Huari Pukara empfangen uns herzlich. Die Kinder haben Lieder eingeübt und führen Tänze vor. Überall gibt es zu essen: die trockenen Kartoffeln, die eher gewöhnungsbedürftig sind und „Trucha“ (Forelle) oder Fleisch. Die Forellenzucht gehörte von Anfang an zu unserem Projekt und wird seit einigen Jahren erfolgreich betrieben.
Die Lebensbedingungen auf der Hochebene sind sehr hart, aber der Umzug ins Tal ist für die meisten Familien auch keine Lösung. Mit unseren Projekten versuchen wir, die Lebensqualität der Menschen in dieser doch entlegenen Region zu verbessern und dies nachhaltig. Ähnlich wie bei den Mapuche gilt es, auch hier die Familien und Schulen in einen Lernprozess einzubinden, mit dem Ziel, die landwirtschaftlichen Produktionsmethoden zu verbessern und auch Neues auszuprobieren wie z.B. die Forellenzucht. Mittlerweile sehen die Menschen, dass das Projekt etwas bringt und viele nutzen die neuen Methoden und Möglichkeiten, um ihr Leben zu verbessern.
TAG 7 – 07/02/2020: Sacaba
Der zweite Tag mit Anawin ist der Schule in Korihuma gewidmet. Die OTB (Organización Territorial de Base) Korihuma liegt in der Gemeinde Sacaba an der Peripherie von Cochabamba. In dieser Gegend wächst die Stadt weiter. Hier bestätigen sich sämtliche Konsequenzen, welche eine zu schnelle soziodemographische Entwicklung besonders für die Kinder mit sich bringt :Gewalt, Drogen, Kriminalität, frühe Schwangerschaften, Schulabbruch usw. Die gezielte Arbeit der Pädagogen von Anawin mit den Schülern und den Lehrern soll dem entgegenwirken. Eine sehr junge Lehrerschaft, engagierte Leute in der OTB und den Elternräten sowie ein kooperativer Schuldirektor sind positive Ansatzpunkte. Des Weiteren war die Gemeinde Korihuma bereit, den Ausbau der Schule mit zu finanzieren.
Der Empfang in der Schule ist für uns überwältigend. Über 500(!) Eltern sind gekommen. Der Festakt beinhaltet ein Dutzend Reden (inklusive derer von Claude und mir), einige musikalischen Einlagen des Schulorchesters, mehrere Aufführungen der Schüler und Studenten, Tänze, theatralische Einlagen, Pantomime, usw.
Beim Rundgang durch die Schule werden wir vor allem auf die technischen Ausbildungsgänge aufmerksam gemacht: Autotechnik, Informatik und Gastronomie bieten den Schülern gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, können aber auch als Ausgangspunkt für ein zusätzliches Studium gelten. Hier besteht Entwicklungspotential und die Verantwortlichen träumen von weiteren Ausbildungsgängen. Ein Wink mit dem Scheunentor!
Zum Mittagessen gehen wir in den nahegelegenen Gemeindesaal und auch heute gibt es Tambaqui, einen tropischen Süßwasserfisch, naher Verwandter der Piranhas, der bis zu 45 Kilo schwer werden kann. Vom Geschmack und der Konsistenz her ist es einer der besten Fische, die ich je gegessen habe. (Ob man den wohl irgendwo in Europa kaufen kann? Ich frage Herrn oder Frau Google. Tatsächlich, die bretonische Firma Halieutis Fish&Co hat mit den Tambaqui-Rips den ersten Preis auf der Seafoodexpo 2011 in Brüssel gemacht.)
Am Nachmittag fahren wir zurück nach Cochabamba in die Büroräume von Anawin zu einer abschließenden Versammlung mit dem Team. Wir versuchen, die pädagogische Unterstützung von Anawin besser zu verstehen. In den Zwischenberichten ist von 11 pädagogischen Ansätzen die Rede, die den Lehrern vermittelt werden. Führt das nicht zu einem heillosen Durcheinander? Nein, es handelt sich um eine Einführung in die verschiedenen Ansätze. Die Lehrer können wählen, was sie vertiefen und umsetzen wollen. Ziel ist es vor allem, von einem unilateralen Frontalunterricht wegzukommen.
Abends gehen wir dann alle zusammen ins Restaurant. Kattys Mann, Roberto, stößt noch hinzu. Wir freuen uns, ihn wiederzusehen und können schöne Erinnerungen an die gemeinsame Toro-Toro-Nationalparktour von 2016 austauschen. Der bolivianische Tannat, ein Rotwein von Weinbergen auf 1750 Höhenmeter, schmeckt gut und verlangt nach mehr. Gegen Mitternacht verabschieden wir uns. Katty werden wir in zwei Tagen morgens um 08:00 Uhr am Flughafen wiedersehen. Wir haben sie auch für unsere Gespräche mit CONTEXTO in La Paz verpflichtet.
Tag 8 und 9 – 08-09/02/2020: Cochabamba / Tirani
Während Korihuma im Südwesten Cochabambas liegt, muss man vom Zentrum aus nordöstlich fahren, um nach Tirani zu kommen. Beide Orte liegen etwa 25 km voneinander entfernt. Von unserem Hotel bis nach Tirani sind es 5 km. Ich war 2008 zum ersten Mal in Tirani, noch vor unserer Zusammenarbeit mit der Fundación Cristo Vive Bolivia. Erstes Projekt (2010-2013) war die Errichtung des Kindergartens „Ch’askalla“ (Sternchen) und gleichzeitig die Ausbildung von Erzieherinnen und intensive Elternarbeit. Damals bestand die Gemeinde Tirani aus rund 400 Familien (3000 Einwohnern). Das Folgeprojekt «Buen vivir en la comunidad de Tirani» (2014-2018) versuchte, noch stärker die zentralen Zielsetzungen von Nachhaltigkeit und „Gutem Leben“ umzusetzen. Leider ließen die Projektvorschriften unseres Ministeriums es nicht zu, hier nochmal nachzusetzen. Wann wird man verstehen, dass die Implementierung von „Nachhaltigkeit“ manchmal etwas länger braucht. Wir können dies ohne weiteres an unserer eigenen nationalen Entwicklung der letzten 100 Jahre nachvollziehen … Das aktuelle Projekt geht daher nicht in die Tiefe sondern in die Breite und wir können heute den fertiggestellten Kindergarten von Taquina Chico und die Arbeiten in Andrada (Nachbarorte von Tirani) besuchen. Die Leute in der Gegend haben Vertrauen durch die Arbeit des Kindergartens „Ch’askalla“ gefunden und Taquina Chico und Andrada werden bald voll funktionsfähig sein.
Wir werden gedrängt, weitere Projekte anzugehen. Obwohl wir den Bedarf sehen, können wir nichts versprechen. Innerlich komme ich zur Überzeugung, dass man die Leute hier nicht hängen lassen kann. Sie haben Mut gewonnen, sehen und hoffen, dass es weitergehen kann und packen auch mit an. Natürlich ist die politische Großwetterlage aktuell in Bolivien sehr unsicher und auch hier muss man abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Die Unruhen hatten uns ja gezwungen, die Reise von November auf Februar zu verlegen. Der Februar ist der Ferienmonat in Bolivien. Der Kindergarten ist geschlossen, was an sich kein Problem ist, nur unsere Luxemburger Freiwillige vor Ort nutzt natürlich diesen Monat, um etwas in Südamerika zu reisen. Somit haben wir Alissa in Tirani verpasst, können aber hier und da hören, wie ihre Arbeit gelobt wird.
Erwähnenswert ist noch unser Treffen mit den angehenden Erzieherinnen, die in Ausbildung sind. 26 Frauen sind anwesend. Tilme, die Projektleiterin, bittet sie, sich vorzustellen. Die Frauen sind zwischen 20 und 40 Jahre alt, mehr als die Hälfte sind verheiratet und haben Kinder. Alle – einige sogar unter Tränen – weisen darauf hin, dass diese Ausbildung für sie eine Chance und ein großes Glück ist. Wir wünschen viel Erfolg und einen guten Start ins Berufsleben. Im ersten Projekt hatte sich die Ausbildung von Frauen aus der Gemeinschaft für die Arbeit im Kindergarten bewährt und wir haben darum im aktuellen Projekt die gleiche Ausbildung nochmal vorgesehen. Das Interesse daran war enorm.
Während der zwei Tage sind Mercedes, die Direktorin der FCVB und Tilme die Projektleiterin, immer an unserer Seite, um zu erklären und unsere Fragen zu beantworten. Tilme hat den Kindergarten und unser anschließendes gemeinsames Projekt zu dem gemacht, was es ist, ein Beispiel von „best practice“ (wie es so schön in europäischen Projekten heißt). Während Tilme den aktiven Part spielt, übernimmt Mercedes die ruhige und besonnene Rolle. Es scheint uns, dass dieses Duo bestens funktioniert und unser Projekt sich also gut entwickelt. „A ver!“ (Wir werden sehen) sagen die Bolivianer.
Anschließend gönnen Claude und ich uns einen ruhigen Abend. Wir essen in der Pizzeria (La Cantonata) „um die Ecke“ von unserem Hotel. Hier haben wir übrigens den besten Pisco Sour der ganzen Reise getrunken. Beim abschließenden Bier haben wir nicht nur das Essen verdaut, sondern auch die vielen Eindrücke der letzten Tage. Wir überlegen auch, wie wir die Sache morgen mit CONTEXTO angehen sollen, unsere zukünftige Zusammenarbeit steht auf dem Spiel. Also dann: morgen 07:00 Uhr Kaffee, 07:30 Uhr Taxi 08:00 Uhr Check-In und um 10:00 Uhr sitzen wir in den Räumlichkeiten von CONTEXTO in La Paz. Heute Abend heißt es darum: Zeit ins Bett zu gehen!!
Tag 10 – 10/02/2020: El Alto/La Paz
Die Höhe spürt man sofort auf dem Flughafen El Alto, der auf 4.100 m liegt. Es ist auch kälter als in Cochabamba, wo wir abends die Jacke noch auf dem Zimmer lassen konnten. Unsere Partner von CONTEXTO sind gut vorbereitet. Der Ablauf unseres Aufenthaltes ist durchgeplant bis morgen 19:00 Uhr, wenn unser Flieger nach Uyuni startet. Gott sei Dank haben sie versucht, Stress zu vermeiden. Wir sind mehr als dankbar, können in Ruhe im Hotel einchecken, ‘ne gute halbe Stunde über den Hexenmarkt spazieren, unsere Souvenirs besorgen und schlussendlich noch eine Kleinigkeit essen. Am frühen Nachmittag stellt uns CONTEXTO, in der Person von Teresita Vasquez, dann ihre neuen Projekte vor. Ein Folgeprojekt für Potosi, wo wir eben das letzte Projekt beendet haben und ein Projekt zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kinder, ein riesiges Problem in Bolivien. Pro Jahr werden in La Paz mehr als 100 Frauenmorde gezählt. Teresita Vasquez ist Psychologin und die Tochter von Teresa Subieta, die CONTEXTO gegründet hat. Teresa Subieta wurde vor zwei Jahren zur Ombudsfrau für Menschenrechte der gesamten Region La Paz genannt und hatte sich daraufhin aus dem Vorstand von CONTEXTO zurückgezogen. Parallel dazu verlor CONTEXTO einige Finanzierungszweige und musste Personal entlassen. Die Zukunft der Institution war in Frage gestellt. Teresa trat daraufhin dem Vorstand wieder bei. CONTEXTO hat eine Consulting Firma gegründet, mit der Aufträge für den Staat ausgeführt werden können, eine zusätzliche Einnahmequelle. Die Organisation scheint uns wieder gefestigt und die Motivation ist groß, mit uns ein neues Projekt anzugehen.
Am späten Nachmittag stößt ein Freund von Teresa zu uns. Er ist Soziologe und Teresa hat ihn gebeten, uns über die politische Entwicklung in Bolivien zu informieren. Es sprengt den Rahmen dieses Reiseberichtes, den Vortrag und die anschließende Diskussion wiederzugeben. Nur so viel: Durch die vergangenen Unruhen zählt man 36 Tote, 500 Verletzte und über 1000 Verhaftete. Augenblicklich wird Bolivien von einer Übergangsregierung verwaltet. Am 3. Mai sind wieder Wahlen. Dem Movimiento al Socialismo (MAS) von Evo Morales, der fast die Hälfte der Wählerstimmen in der Vergangenheit vereinigte, stehen 7 Rechtsparteien gegenüber, die unter sich zerstritten sind. Evo Morales hat einen Antrag für die Wahl in den Senat gestellt. Er kann nicht wieder Präsident werden. Allerdings wird der MAS wahrscheinlich die Wahlen gewinnen. Was dann geschieht, ist noch nicht vorhersehbar.
Tag 11 – 11/02/2020: La Paz
Teresa hat für diesen Morgen zuerst die Zusammenkunft mit einer Ihrer „Klientinnen“ vorgesehen. Wir werden etwas kalt erwischt, als uns die Frau unter Tränen von ihrem grausamen Schicksal erzählt. Sie ist Mutter von zwei Töchtern und einem jüngeren Sohn. Über Jahre wurden die beiden Töchter von Vater und Großvater sexuell missbraucht. Als sich psychiatrische Störungen (Selbstverletzungen) bei den Mädchen einstellten, flog die Sache auf und die Frau verliess mit ihren Kindern Hals über Kopf das Haus. Sie fand eine Ordensschwester, die sie aufnahm und ihr und den Kindern ein Dach über dem Kopf bot. Sie wandte sich an die Polizei und entsprechende gerichtliche Stellen, jedoch ohne irgendeine Hilfe zu bekommen. Ihr Mann hatte schon Bestechungsgelder bezahlt. Vor Gericht wurde sie 2019 zurückgewiesen. Inzwischen haben ihre Mädchen, in Depressionen versunken, mehrere Selbstmordversuche unternommen. Daraufhin ging sie vor die Presse und Teresa konnte als Ombudsfrau den Prozess wieder aufrollen. Als die zurückgehaltenen Beweise auf den Tisch kamen, hat die Frau Recht bekommen. Vater und Großvater wurden verurteilt. Der Vater ist im Gefängnis, der Großvater flüchtig. Das gemeinsam gebaute Haus wurde vom Vater an seine Schwester überschrieben, so dass die Frau keine finanziellen Mittel aus ihrem früheren Leben retten konnte. Sie hat heute eine Anstellung und verdient gerade genug, um zu leben. Bei CONTEXTO findet sie Zuspruch und Wärme. Ohne Teresa wäre diese Frau mit ihren Kindern untergegangen und wahrscheinlich nicht mehr am Leben.
Es ist also nicht verwunderlich, dass Teresa, in Bezug auf ein zukünftiges Projekt, bei dieser Gewaltproblematik den größten Handlungsbedarf sieht.
Am Nachmittag sitzen wir in lockerer Runde zusammen. Einige Verantwortliche aus den Gemeinschaften erzählen kurz, wie die Arbeit von CONTEXTO in ihrem Leben fruchtet. Dazwischen wird gesungen und Gitarre gespielt. Maria Rodrigues, Koordinatorin bei CONTEXTO, stellt uns ihr Liederbuch (mit eigenen Texten und Melodien) vor, mit dem man sich singend das Alphabet aneignen kann und auch erste Worte lesen lernt. Erstaunlich dieses Talent und diese Kreativität!
Bevor wir zum Flughafen fahren, gibt es noch Tee und eine kleine Stärkung. Wir werden am Abend spät in Uyuni ankommen und erst gegen 23:00 Uhr im Hotel sein. Etwas Schmalkost kann auch nicht schaden. Claude und ich schließen mit einem guten Gefühl den offiziellen Teil unserer Reise ab. Die Entwicklungen bei allen Partnern sind durchwegs positiv. Mit neuer Motivation fahren wir nach Hause, um dort an unserem Teil der Abmachungen zu arbeiten. Aber zuerst sind noch zwei Tage Tourismus angesagt.
Tag 12-16: Schluss
Am ersten Tourismustag sehen wir uns den Salar de Uyuni an, die größte Salzwüste der Erde. Es hat geregnet und da das Wasser nicht durch das Salz abfließen kann, spiegeln sich die Wolken und der Himmel auf der glatten Oberfläche und der Horizont ist nicht mehr klar auszumachen. Mein Schnupfen und eine angehende Bronchitis machen mir zu schaffen. Wir schlafen abends im Hotel „Tayka del Desierto“ auf 4.400 m. Noch schöner und beeindruckender ist am zweiten Tag die Reserva Nacional de Fauna Andina Eduardo Avaroa mit ihren Vulkanen, Steinwüsten, Geysiren und Lagunen in Höhen um 4.000 m. Die Geysire befinden sich auf 5.200 m. Der Druckausgleich in meinen Ohren, der Nase und den Stirnhöhlen funktioniert nicht richtig und trübt etwas die Begeisterung für die wunderbare Natur ringsum. Unser Ziel ist an diesem Tag Calama im Chile, das gegenüber liegt. Von dort können wir nach Santiago fliegen, um dann mit Air France über Paris nach Hause zu kommen. An der Grenze Bolivien/Chile werden wir von chilenischer Seite her abgeholt. Autos mit bolivianischem Kennzeichen dürfen anscheinend nicht rüber. Katty hat das alles organisiert und es klappt. Calama liegt auf einer Höhe von knapp 2.500 m, das ist ja nichts! Wir können wieder durchatmen und meine Erkältung hat es anscheinend nicht über die Grenze geschafft.
Es geht also gesund und munter nach Hause.