Chile verfasst sich neu

 

Überwältigende Mehrheit votiert für die Überwindung der Pinochet-Verfassung

Von Martin Ling, Neues Deutschland 26.10.2020

»Es lebe Chile, verdammte Scheiße.« Mit diesen Worten beschloss der Enkel von Salvador Allende seine Botschaft im Kurznachrichtendienst Twitter zum Ergebnis des Referendums in Chile. Pablo Sepúlveda Allende ist wie sein Großvater Arzt, lebt und arbeitet in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Vorausgeschickt hatte er seine Einschätzung: »Für mich hat dieser überwältigende Triumph eine symbolische Bedeutung, denn heute hat das chilenische Volk das katastrophale Vermächtnis Pinochets auf den Misthaufen der Geschichte geschickt.«

Nicht nur bei Allende in Caracas schlugen die Emotionen hoch. Tausende Chilen*innen strömten nach den ersten Ergebnissen auf die Plaza Italia in Santiago, die seit dem Beginn der Protestbewegung am 18. Oktober 2019 in Platz der Würde (Plaza de la dignidad) umgetauft wurde. Auch wenn die Bewertungen von »einer demokratischen Lektion für die Welt« bis zu »ein bittersüßer Sieg, der zu viele Menschenleben gekostet hat« reichten, war man sich doch einig: Die Verfassung von 1980 aus der Pinochet-Diktatur (1973-90) hat endlich ausgedient und gedient hatte sie ja ohnehin nur den oberen Zehntausend.

Das Plebiszit hatte die rechte Regierung von Sebastián Piñera zugestanden, nachdem es seit dem 18. Oktober 2019 monatelang zu Massenprotesten im Land gekommen war, denen erst die Corona-Pandemie die Spitze nahm. Dabei wurden mehr als 30 Menschen getötet und über 200 Menschen verloren ihr Augenlicht durch Hartgummigeschosse der Polizei.

Ausgelöst wurden die Proteste durch eine Erhöhung der Fahrscheinpreise im öffentlichen Nahverkehr um 30 Pesos – umgerechnet drei Cent. »Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre«, lautete einer der auf den Demos gerufenen Slogans. Es geht in Chile in der Tat um die Folgen von 30 Jahren neoliberaler Politik, die nach Ende der Pinochet-Diktatur 1990 nahezu bruchlos fortgesetzt wurde. Strom, Wasser, Bildung, Gesundheits- und Rentensystem wurden unter General Augusto Pinochet privatisiert. Die sozialen Strukturen des demokratischen Sozialismus, aufgebaut unter Salvador Allende, wurden zerschlagen. Daran hat sich bis heute nichts geändert, weil die Verfassung von 1980 jeder größeren Veränderung einen Riegel vorschob.

Das Ergebnis ist eindeutig: Chiles Bevölkerung hat die Verfassung satt. 78,3 Prozent stimmten für eine neue Verfassung, nur 21,7 Prozent wollen an der Verfassung von Pinochet festhalten. Auch die Mindestbeteiligung von 50 Prozent wurde erreicht.

Ursprünglich war das Referendum für April angesetzt, wegen der Coronakrise wurde die Abstimmung jedoch auf Oktober verschoben. Die Chilen*innen mussten auch entscheiden, wer eine mögliche neue Verfassung entwerfen soll: eine gemischte Versammlung, zusammengesetzt aus Abgeordneten und Bürgern, oder eine reine Bürgerversammlung mit 155 Mitgliedern. 79 Prozent sprachen sich für die zweite Variante ohne Politiker*innen aus, was das tiefe Misstrauen gegenüber der politischen Klasse zeigt, die 30 Jahre keine Anstalten gemacht hat, die Verfassung aus der Diktatur infrage zu stellen. Dafür sorgte erst der Druck der Straße. Das Verfassungsgremium soll im April 2021 gewählt werden; über den von ihm erarbeiteten Entwurf soll dann im Jahr 2022 ein erneutes Referendum abgehalten werden.

In der Protestbewegung gibt es aber durchaus Skepsis. Nicht wenige halten den Prozess einer verfassunggebenden Versammlung für eine Falle der Regierung: Reform der Verfassung ja, aber ohne das neoliberale Modell wirklich anzutasten. Piñera hat schon zehn Punkte genannt, die seiner Meinung nach in eine neue Verfassung unbedingt reingehören. Darunter findet sich die Rolle der traditionellen Familie und der privaten Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Mit den Forderungen der Protestbewegung lässt sich das nicht vereinbaren: Schluss mit dem privaten Rentensystem, kostenlose Bildung, Gesundheitsversorgung für alle.

 

Ein Kommentar von Schwester Karoline Mayer, Recoleta, Santiago de Chile:

Sicher kam das Ergebnis unseres Plebiszit bei euch in den Nachrichten.

Der 25. Oktober 2020 wird in die Geschichte Chiles eingehen: 78% der Wähler haben sich für eine neue Verfassung entschieden, die ohne die Beteiligung von Abgeordneten („Parlamentarios“) von einer verfassungsgebenden Versammlung geschrieben wird.

Von den insgesamt 436 Kommunen Chiles haben 431 mit grosser Mehrheit für eine neue Verfassung und nur 5 Kommunen mehrheitlich für die Pinochet-Verfassung gestimmt: davon 3 Kommunen  der Reichenviertel Santiagos, was mich sehr traurig macht, weil sie damit die enorme soziale Spaltung in unserem Land vor aller Augen gezeigt haben, weit ab von sozialer Gerechtigkeit und dem Willen zur Überwindung unserer Klassengesellschaft mit all ihren Privilegien.

Dennoch ist die Freude des Volkes unbeschreiblich. Viele Pobladores in unserer Siedlung hoffen, – auch wenn sie selbst vielleicht wenig davon abbekommen werden – dass ihre Kinder und Enkel ein würdigeres Leben haben werden.

Sieg der Basis in Bolivien

Der Wahlsieg der Sozialistischen Partei kam auch durch eine soziale Bewegung zustande. Sie wird der neuen Regierung nicht alles durchgehen lassen.

Präsidentschaftskandidat Luis Arce feiert in La Paz den Sieg der Sozialistischen Partei
Foto: Ueslei Marcelino/reuterso

Bolivien hat gewählt. Luis Arce, neuer Präsident von Bolivien, verfkörpert die Abwahl einer ultrarechten Regierung, deren Ausrichtung in nur einem Jahr unter Jeanine Áñez allzu deutlich wurde. Áñez äußerte sich wiederholt rassistisch gegen die mehrheitlich indigene Bevölkerung, ließ das Militär oder Paramilitärs auf De­mons­tran­t*in­nen schießen und hat mit ihrer Regierung laut Interamerikanischer Menschenrechtskommission zwei Massaker an Oppositionellen zu verantworten. Sie ist christlich-konservativ und vertritt eine aggressiv neoliberale Politik.

Nachdem Áñez ihre Kandidatur wegen Unbeliebtheit zurückzog, war von dem parteilosen Kandidaten Carlos Mesa zumindest wirtschaftlich kein Kurswechsel zu erwarten. Der Sieg des Sozialisten Luis Arce ist somit in erster Linie als eine Absage an die rechtsliberale Politik zu verstehen. Mit dem zukünftigen Vizepräsidenten David Choquehuanca würde auch wieder ein indigener Politiker ein zentrales Amt bekommen.

Die Siegerpartei „Bewegung zum Sozialismus“, MAS, wird von großen Teilen der Bevölkerung allerdings ebenfalls scharf kritisiert, auch von links. Zwischen 2006 und 2019 versuchte die MAS unter dem damaligen Präsidenten Evo Morales den schwierigen Spagat zwischen Wirtschaftswachstum und sozialer Gerechtigkeit sowie dem Respekt vor Indigenen Territorien – ein Spagat, der mit einer Bauchlandung endete.

Luis Arce, früher Wirtschaftsminister unter Morales, steht für eine Politik des Extraktivismus – also die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen –, durch die Indigene Territorien zerstört werden. Trotz bedeutender Errungenschaften in der Sozialpolitik enttäuschte die Partei, indem sie sich zunehmend der Wirtschaftselite annäherte. Auch regierte Evo Morales mit der MAS zuletzt autoritär.

Trotzdem ist der Wahlsieg von Luis Arce und der MAS ein Sieg der Bevölkerung. Denn die hat in den vergangenen Monaten eine kraftvolle und handlungsfähige Landbewegung von unten aufgebaut: Während die amtierende Regierung den Wahltermin immer weiter verschieben und sich vermutlich um die Wahl drücken wollte, errichteten soziale Bewegungen und Gewerkschaften landesweit Straßenblockaden und legten das Land lahm.

Im besten Fall wird diese starke Bewegung auch der MAS nicht alles durchgehen lassen. Es besteht die Hoffnung, dass sie sich auflehnt, wenn die Partei zu weit in Richtung Extraktivismus abbiegt oder Bevölkerungsgruppen übergeht. Dass die Partei daran erinnert werden wird, für wen sie sich einst stark machen wollte. (in taz 19.10.2020)

Warten auf die Volksabstimmung

Karoline Mayer berichtet zur Lage in ihren Einrichtungen in Bolivien, Chile und Peru

19.10.2020

Die vergangenen sechs Monate der Pandemie zusammen mit dem sozialen Aufbruch im Land schienen den Menschen um uns herum in den Poblaciones manchmal unerträglich und oft hoffnungslos. Aber dafür haben wir zum Trost der Menschen die Türen der Gemeinde Cristo Vive offengehalten, ebenso unser Gemeindehaus, in dem jeden Sonntag unter der Leitung unseres Mitbruders Elias und Schwester Teresa zusammen mit ehrenamtlichen Gemeindemitgliedern ein gutes Mittagessen für 500 bis 600 Bedürftige gekocht wird. Auch andere Leute in der Siedlung haben sich zusammengetan und Suppenküchen aufgemacht. Überrascht haben uns dabei die vielen solidarischen Initiativen!

Für mich persönlich waren diese Monate seit Mitte März eine Herausforderung der Liebe Gottes. Die ersten Monate ging ich noch ins Büro, als aber die Not der Leute in unserer Siedlung wuchs, entschloss ich mich, den institutionellen Dienst hauptsächlich von Zuhause aus zu machen, um gleichzeitig zusammen mit Maruja den Kranken und Bedürftigen, die jeden Tag an unsere Tür kommen, in ihrer Not beizustehen.

Bei allen Einschränkungen  haben unsere Mitarbeitenden in der Fundación Cristo Vive versucht, die Menschen, mit Hilfe von Annekathrins Kampagne hier in Chile und durch Spenden von unseren luxemburger, schweizer und deutschen Freunden, zu unterstützen

Seit Wochen gibt es kaum neue Ansteckungen in unserem Gesundheitszentrum und dennoch wird die Angst vor einer 2. Welle hochgehalten.

Wir haben in diesen schwierigen Monaten keinen unserer Mitarbeiter entlassen, obwohl der Staat keinen Cent für unsere Berufsschulen gezahlt hat, die im ersten Semester 600 junge Menschen in einem Beruf ausbilden sollten. 

Wie ihr wisst, begann am 18.Oktober 2019 in Chile ein sozialer Aufstand, der erwirkt hat, dass sich die verschiedenen Parteien mit der Regierung auf eine Volksabstimmung einigen konnten, die über die Möglichkeit der Erarbeitung einer neuen Verfassung entscheiden wird. Unsere jetzige Verfassung wurde Chile im Jahr 1980 von der Diktatur gegeben, eine Verfassung, die eine totale neoliberale kapitalistische Wirtschaftspolitik gesetzlich verankert. 30 Jahre Demokratie mit 6 Mitte-links Regierungen konnten daran fast nichts ändern. „Chile despertó!“, „Chile ist erwacht“, rief unser Freund, der aus der Oberschicht stammende bekannte Arbeiterpriester, Mariano Puga, vor genau einem Jahr. Nach einer Verschiebung des Termins wegen der Pandemie wird nun am nächsten Sonntag, den 25.Oktober, diese wichtige Volksabstimmung stattfinden.

Ich selbst wie auch Maruja denken, dass wir zusammen mit unseren Mitarbeitern in dieser schweren Zeit privilegiert sind. Mit Maruja leben wir seit fast 50 Jahren unter den Armen. Wir haben die Möglichkeit anderen in ihren Nöten beizustehen. Manchmal hilft ihnen schon, dass sie sich bei uns ausweinen können. Oft erlebe ich auch kleine Wunder: Nach der Beerdigung ihrer Mutter übergibt mir die Tochter das übrig gebliebene Morphium. Ich wollte es in unser Gesundheitszentrum bringen, habe es aber vergessen. In der darauffolgenden Freitagnacht ruft mich ein junger Freund verzweifelt an, dass er unbedingt Morphium, vom Arzt per Telefon verordnet, für seine schrecklich leidende Mutter brauche. Woher es jetzt ohne Rezept bekommen? Da war es – das vergessene Morphium!!! Ein Nachbar, dem ich für sein schlimmes Augenleiden einen Augenarzt besorgt hatte, brachte uns eine schwere Kiste mit Lebensmitteln „für eine Familie in Not“. Perplex frage ich ihn, „und deine Familie?“. „Ich selbst habe noch Arbeit und das Bedürfnis mit anderen zu teilen.“

Die Pandemie traf Bolivien in einer Zeit schlimmer politischer Unruhen mit Verfolgung ehemaliger Regierungsträger und andererseits mit heftigem Widerstand des Volkes. In der Erwartung auf das Wahlergebnis an diesem 18. Oktober hat sich das Land etwas beruhigt und für unsere Mitarbeiter ist seit ein paar Wochen der Alltag in unseren Diensten eingekehrt. Nur die Kindertagesstätten sind weiter geschlossen. Doch wir hoffen, dass auch diese bald wieder öffnen dürfen, denn für die Familien ist diese Situation eine schwere Belastung. Zum Glück können wir auch wieder mit den Schulkindern in den Kulturzentren Sumaj Yachay und Chocaya arbeiten. Wir hoffen, dass die rund 550 SchülerInnen unserer Berufsfachschule Sayarinapaj in Bella Vista das Schuljahr schaffen, auch wenn dieses statt im November, voraussichtlich erst im kommenden Januar enden wird.  Unser Team um Tilme, das den Familien in Tirani und Andrada beim Anbau ihrer Felder beisteht, blieb fast alle Monate durchgehend bei der Arbeit, sodass inzwischen schon geerntet werden kann. In der Zeit der Pandemie war es besonders schwer, unsere Puriskiris, die 85 alten Menschen von der Straße, zu begleiten. Aber die Mitarbeiter unter der Leitung von Rosario haben alles nur Mögliche für sie getan, wie auf dem Foto zu sehen ist.

Bei den heutigen Wahlen hat das bolivianische Volk entschieden, den Weg sozialer Gerechtigkeit weiterzugehen.

In Cusco war die Arbeit unserer Mitarbeiter in den vergangenen Monaten sehr schwer, da die offiziellen Einschränkungen, vor allem der Bewegungsfreiheit, unverständlich hart waren. Elf Frauen, die mit ihren Kindern im Haus Sonqo Wasi aufgenommen werden sollten, haben es nicht geschafft, die Hindernisse zu überwinden, um zu uns zu kommen. Dennoch haben sich unsere Mitarbeiter eingesetzt, notleidende Familien mit Lebensmitteln zu versorgen, ebenso mit Hilfe einer Spende von „Niños de la Tierra“ konnten Sauerstoffflaschen besorgt werden, um mittellosen Covid- Erkrankten beizustehen. Wir erwarten nun, dass bald Normalität einkehrt.

Notre aide reste sollicitée

La pandémie COVID19 sévit toujours en Bolivie, au Chili et au Pérou. Elle entraine une forte mortalité et un système sanitaire en défaillance totale sans parler des suites humanitaires qui s‘en suivent. En plus la situation économique est en pleine chute. Une grande partie de la population active travaille dans le secteur informel (boutiques ambulantes, saisonniers, journaliers). Le confinement ainsi que la baisse des activités économiques les privent de tout revenu. Ils dépendent de l‘aide extérieure, en partie mineure, de l‘Etat respectif ou d‘organismes privés, comme nos associations partenaires locales. Mais leurs moyens d‘aide sont restreints. En ce qui nous concerne, les fonds cofinancés par l‘Etat sont liés à un projet spécifique et ne peuvent être dérogés à cette fin.


Nous nous voyons donc forcés d‘appeler encore une fois à votre générosité, chers amis et sympathisants de Niños de la Tierra, pour soutenir nos associations partenaires.

Veuillez doter vos dons à notre CCPL LU75 1111 0897 7348 0000

de la mention „don covid-19“.

Merci pour votre sympathie et votre engagement!

Veröffentlicht unter NEWS

Direkthilfe noch immer aktuell

Die COVID19 Pandemie greift noch immer weiter um sich in Bolivien, Chile und Peru. Neben den gravierenden menschlichen Problemen, den hohen Sterberaten und der unzulänglichen Gesundheitsversorgung, ist die ökonomische Lage desolat. Ein Großteil der Erwerbstätigen verdient seinen Unterhalt im informellen Sektor (Straßenhändler, Tagelöhner, Saisonarbeiter). Die Einschränkungen im öffentlichen Leben sowie der generelle Einbruch der Ökonomie entziehen diesen Menschen jede Einnahmequelle. Sie sind auf direkte Nothilfe, in bescheidenem Maße vom jeweiligen Staat oder von privaten Institutionen wie unsere Partnerorganisationen vor Ort, angewiesen. Aber auch diese schwimmen nicht im Geld. In der Regel können projektgebundene, von ausländischen Staaten kofinanzierte Gelder, nicht zu diesem Zweck abgezweigt werden.


Wir appellieren also noch einmal an Ihre Großzügigkeit, liebe Freunde und Unterstützer von Niños de la Tierra, unsere Partnerorganisationen tatkräftig zu unterstützen.

Bitte versehen Sie Ihre Spenden auf unser CCPL LU75 1111 0897 7348 0000 mit dem Zusatz: „don covid-19“.

Vielen Dank für Ihr Mitgefühl und Ihr Engagement!

Veröffentlicht unter NEWS