Warten auf die Volksabstimmung

Karoline Mayer berichtet zur Lage in ihren Einrichtungen in Bolivien, Chile und Peru

19.10.2020

Die vergangenen sechs Monate der Pandemie zusammen mit dem sozialen Aufbruch im Land schienen den Menschen um uns herum in den Poblaciones manchmal unerträglich und oft hoffnungslos. Aber dafür haben wir zum Trost der Menschen die Türen der Gemeinde Cristo Vive offengehalten, ebenso unser Gemeindehaus, in dem jeden Sonntag unter der Leitung unseres Mitbruders Elias und Schwester Teresa zusammen mit ehrenamtlichen Gemeindemitgliedern ein gutes Mittagessen für 500 bis 600 Bedürftige gekocht wird. Auch andere Leute in der Siedlung haben sich zusammengetan und Suppenküchen aufgemacht. Überrascht haben uns dabei die vielen solidarischen Initiativen!

Für mich persönlich waren diese Monate seit Mitte März eine Herausforderung der Liebe Gottes. Die ersten Monate ging ich noch ins Büro, als aber die Not der Leute in unserer Siedlung wuchs, entschloss ich mich, den institutionellen Dienst hauptsächlich von Zuhause aus zu machen, um gleichzeitig zusammen mit Maruja den Kranken und Bedürftigen, die jeden Tag an unsere Tür kommen, in ihrer Not beizustehen.

Bei allen Einschränkungen  haben unsere Mitarbeitenden in der Fundación Cristo Vive versucht, die Menschen, mit Hilfe von Annekathrins Kampagne hier in Chile und durch Spenden von unseren luxemburger, schweizer und deutschen Freunden, zu unterstützen

Seit Wochen gibt es kaum neue Ansteckungen in unserem Gesundheitszentrum und dennoch wird die Angst vor einer 2. Welle hochgehalten.

Wir haben in diesen schwierigen Monaten keinen unserer Mitarbeiter entlassen, obwohl der Staat keinen Cent für unsere Berufsschulen gezahlt hat, die im ersten Semester 600 junge Menschen in einem Beruf ausbilden sollten. 

Wie ihr wisst, begann am 18.Oktober 2019 in Chile ein sozialer Aufstand, der erwirkt hat, dass sich die verschiedenen Parteien mit der Regierung auf eine Volksabstimmung einigen konnten, die über die Möglichkeit der Erarbeitung einer neuen Verfassung entscheiden wird. Unsere jetzige Verfassung wurde Chile im Jahr 1980 von der Diktatur gegeben, eine Verfassung, die eine totale neoliberale kapitalistische Wirtschaftspolitik gesetzlich verankert. 30 Jahre Demokratie mit 6 Mitte-links Regierungen konnten daran fast nichts ändern. „Chile despertó!“, „Chile ist erwacht“, rief unser Freund, der aus der Oberschicht stammende bekannte Arbeiterpriester, Mariano Puga, vor genau einem Jahr. Nach einer Verschiebung des Termins wegen der Pandemie wird nun am nächsten Sonntag, den 25.Oktober, diese wichtige Volksabstimmung stattfinden.

Ich selbst wie auch Maruja denken, dass wir zusammen mit unseren Mitarbeitern in dieser schweren Zeit privilegiert sind. Mit Maruja leben wir seit fast 50 Jahren unter den Armen. Wir haben die Möglichkeit anderen in ihren Nöten beizustehen. Manchmal hilft ihnen schon, dass sie sich bei uns ausweinen können. Oft erlebe ich auch kleine Wunder: Nach der Beerdigung ihrer Mutter übergibt mir die Tochter das übrig gebliebene Morphium. Ich wollte es in unser Gesundheitszentrum bringen, habe es aber vergessen. In der darauffolgenden Freitagnacht ruft mich ein junger Freund verzweifelt an, dass er unbedingt Morphium, vom Arzt per Telefon verordnet, für seine schrecklich leidende Mutter brauche. Woher es jetzt ohne Rezept bekommen? Da war es – das vergessene Morphium!!! Ein Nachbar, dem ich für sein schlimmes Augenleiden einen Augenarzt besorgt hatte, brachte uns eine schwere Kiste mit Lebensmitteln „für eine Familie in Not“. Perplex frage ich ihn, „und deine Familie?“. „Ich selbst habe noch Arbeit und das Bedürfnis mit anderen zu teilen.“

Die Pandemie traf Bolivien in einer Zeit schlimmer politischer Unruhen mit Verfolgung ehemaliger Regierungsträger und andererseits mit heftigem Widerstand des Volkes. In der Erwartung auf das Wahlergebnis an diesem 18. Oktober hat sich das Land etwas beruhigt und für unsere Mitarbeiter ist seit ein paar Wochen der Alltag in unseren Diensten eingekehrt. Nur die Kindertagesstätten sind weiter geschlossen. Doch wir hoffen, dass auch diese bald wieder öffnen dürfen, denn für die Familien ist diese Situation eine schwere Belastung. Zum Glück können wir auch wieder mit den Schulkindern in den Kulturzentren Sumaj Yachay und Chocaya arbeiten. Wir hoffen, dass die rund 550 SchülerInnen unserer Berufsfachschule Sayarinapaj in Bella Vista das Schuljahr schaffen, auch wenn dieses statt im November, voraussichtlich erst im kommenden Januar enden wird.  Unser Team um Tilme, das den Familien in Tirani und Andrada beim Anbau ihrer Felder beisteht, blieb fast alle Monate durchgehend bei der Arbeit, sodass inzwischen schon geerntet werden kann. In der Zeit der Pandemie war es besonders schwer, unsere Puriskiris, die 85 alten Menschen von der Straße, zu begleiten. Aber die Mitarbeiter unter der Leitung von Rosario haben alles nur Mögliche für sie getan, wie auf dem Foto zu sehen ist.

Bei den heutigen Wahlen hat das bolivianische Volk entschieden, den Weg sozialer Gerechtigkeit weiterzugehen.

In Cusco war die Arbeit unserer Mitarbeiter in den vergangenen Monaten sehr schwer, da die offiziellen Einschränkungen, vor allem der Bewegungsfreiheit, unverständlich hart waren. Elf Frauen, die mit ihren Kindern im Haus Sonqo Wasi aufgenommen werden sollten, haben es nicht geschafft, die Hindernisse zu überwinden, um zu uns zu kommen. Dennoch haben sich unsere Mitarbeiter eingesetzt, notleidende Familien mit Lebensmitteln zu versorgen, ebenso mit Hilfe einer Spende von „Niños de la Tierra“ konnten Sauerstoffflaschen besorgt werden, um mittellosen Covid- Erkrankten beizustehen. Wir erwarten nun, dass bald Normalität einkehrt.