Neues Gesetz zur Kinderarbeit in Bolivien

Der folgende Beitrag wurde uns freundlicherweise vonLogo Kindernothilfe

zur Verfügung gestellt.

Selten hat ein Thema die Community der internationalen Entwicklungs- und Kinderrechtsorganisationen so aufgewühlt und gespalten, wie die Entscheidung des bolivianischen Parlaments, in dem am 3. Juli 2014 in La Paz verabschiedeten neuen Kinder- und Jugendgesetz Kinderarbeit nicht mehr generell zu verbieten. Umstritten ist vor allem, dass der bolivianische Staat unter bestimmten Umständen – und unter zahlreichen Einschränkungen – die Arbeit von Kindern ab dem zehnten Lebensjahr zulässt. Vor allem die internationale Arbeitsorganisation ILO läuft gegen diese – aus ihrer Sicht völlig unakzeptable – Aufweichung der Internationalen Konvention gegen Kinderarbeit – Sturm. Ende Mai, Anfang Juni besuchte eine kleine Delegation der Lateinamerikanischen Bewegung Arbeitender Kinder (MOLACNATs) – unter anderem mit Unterstützung der Kindernothilfe – das Europäische Parlament und die EU-Kommission in Brüssel, um ihre Sicht auf das Gesetz zu erläutern. Sie nahmen darüber hinaus an einem von Kindernothilfe und terre des hommes organisieren Fachhearing der Deutschen Welle, an der Bilanzpressekonferenz 2014 der Kindernothilfe und an Beratungen rund um die diesjährige ILO-Generalversammlung in Genf teil. Im Gespräch mit Jürgen Schübelin, dem Lateinamerika Referatsleiter der Kindernothilfe, erläutern zwei der Jugendlichen ihre Position zu dem kontroversen Thema. Weitere Informationen zum Thema unter www.kindernothilfe.de

Podiumsdiskussion mit zwei Kinderarbeitern aus Bolivien und Paraguay

Lourdes Cruz Sánchez ist 17 Jahre alt. Mit zehn Jahren hat sie als Küchenhilfe begonnen, zu arbeiten. Zwischendrin war sie Zeitungsverkäuferin, Grabsteine-Putzerin auf dem Friedhof von Potosí, heute arbeitet sie als Näherin und studiert Soziale Arbeit. Sie ist Sprecherin der bolivianischen Bewegung arbeitender Kinder (UNATsBO) und war an den Verhandlungen mit Präsident Evo Morales über das neue Kinder- und Jugendschutzgesetz beteiligt.

Juan Pablino Insfran Aldana ist ebenfalls 17 Jahre alt. Er arbeitet als Schuhputzer auf dem zentralen Busbahnhof von Asunción, Paraguay und ist einer der Sprecher der lateinamerikanischen Bewegung der arbeitenden Kinder und Jugendlichen (MOLACNATs). In diesem Jahr wird er seinen Sekundarschul-Abschluss machen und möchte danach Kommunikationstechnik studieren.

Jürgen Schübelin: Warum ist es aus Eurer Sicht überhaupt notwendig, dass Kinder arbeiten dürfen? Wäre es nicht wichtiger, für das Recht aller Kinder, zur Schule gehen zu können, zu kämpfen?

Lourdes Sánchez, Potosí (17): In ganz vielen Fällen können Kinder in Lateinamerika eben nur deshalb zur Schule gehen, weil sie nebenbei, tagsüber oder abends, an den Wochenenden und in den Ferien arbeiten. Nur so bekommen die Familien das Schulgeld, die Mittel für die Schuluniformen und die Unterrichtsmaterialien zusammen. Kinderarbeit, die Mädchen und Jungen daran hindert, am Unterricht teilzunehmen, lehnen wir ganz entschieden ab.

Juan Pablino Insfran, Asunción (17): Aber es ist ganz wichtig, dass sich Schulen und Lehrer besser auf die Bedürfnisse von arbeitenden Kindern einstellen. Wir brauchen Unterrichtszeiten, die es ermöglichen, Schule und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Und es ist wichtig, dass in der Schule die Lebensleistung und die Erfahrung von Kindern und Jugendlichen, die arbeiten müssen, wertgeschätzt werden. Da fehlt in Lateinamerika noch ganz viel.

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Lateinamerika April Mai 2005 163Jürgen Schübelin: Was ändert sich konkret durch das vom bolivianischen Staat verabschiedete Gesetz – und was sind die Auswirkungen auf arbeitende Kinder?

Lourdes: Zum allerersten Mal überhaupt übernimmt der Staat Verantwortung gegenüber Kindern, die arbeiten müssen – und zwar nicht einfach, indem er Kinderarbeit verbietet, sondern, indem er klare Bedingungen setzt, Institutionen beauftragt, sich um die Belange der arbeitenden Kinder zu kümmern – und auch klipp und klar sagt, was überhaupt nicht geht, nämlich Kinder auszubeuten – oder für Arbeiten einzusetzen, die ihre Gesundheit, ihre Würde und ihr Recht auf Bildung verletzen. Ich finde zum Beispiel ganz wichtig, dass das Gesetz bestimmt, dass nach 22 Uhr nirgendwo in Bolivien ein Kind oder ein Jugendlicher mehr arbeiten darf. Dass für Mädchen und Jungen ab 14 Jahren der gesetzliche Mindestlohn bezahlt werden muss, ist ebenfalls neu und ein Fortschritt.

Jürgen Schübelin: Halten sich die Arbeitgeber an dieses Gesetz, das ja jetzt seit fast einem Jahr in Kraft ist?

Lourdes: Das müssen wir erst noch sehen. Das Gesetz wurde zwar im Juli letzten Jahres verabschiedet, aber erst seit Kurzem gibt es jetzt auch die Ausführungsbestimmungen. Wir werden vermutlich erst in einigen Jahren sagen können, ob unsere Erwartungen wirklich erfüllt wurden. Worauf es jetzt ganz entscheidend ankommt, ist, dass die Kinder- und Jugendämter bei den Kommunalverwaltungen, die ja bei der Umsetzung des Gesetzes und als Ansprechstellen für arbeitende Kinder eine ganz wichtige Rolle spielen, ganz schnell mit ausreichend Geld ausgestattet werden, um funktionieren zu können und dass dort dann auch Leute sind, die für diese Aufgabe wirklich ausgebildet wurden. Wir alle wissen, dass wir weiter für unsere Rechte kämpfen müssen – und uns nichts geschenkt wird.

Juan Pablino: Uns gefällt, dass in Bolivien der Staat nicht länger die Augen vor der Realität der arbeitenden Kinder und Jugendlichen verschließt, sondern mit diesem Gesetz auch zugibt, dass es wegen der Armut und den extrem ungleichen Chancen auf unserem Kontinent noch viele Jahre dauern wird, bis Kinder nicht mehr zum Familienunterhalt beitragen müssen. Aber das Gesetz erkennt endlich auch die Leistung und den Beitrag der arbeitenden Kinder und Jugendlichen an – und bringt ihnen Wertschätzung entgegen. Das haben wir so zuvor noch nirgendwo erlebt.

Jürgen Schübelin: Es kommt ja immer noch nicht so oft vor, dass – wie in diesem Fall – Regierungsmitglieder, sogar der bolivianische Präsident, direkt mit Kindern und Jugendlichen über den Inhalt eines Gesetzes verhandeln. Hattet Ihr dabei das Gefühl gehabt, in jeder Phase ernst genommen zu werden?

Lourdes: Ehe es überhaupt zu Gesprächen kam, haben wir uns monatelang vergeblich zu Wort gemeldet, sind immer wieder umsonst nach Cochabamba und La Paz gefahren, ohne angehört zu werden. Und wir mussten auf die Straße gehen, Demos organisieren. Dabei ist die Polizei auf uns losgegangen. Das war richtig heftig. Erst ganz zum Schluss konnten wir dann doch noch unsere Argumente vortragen – und erlebten, dass unsere Forderungen aufgegriffen wurden. Wir wollten von Anfang an, dass uns der Staat vor Ausbeutung und gefährlicher Arbeit schützt – aber auch den Rahmen setzt, um durch unsere Arbeit unsere Familien unterstützen zu können.

Jürgen Schübelin: Die internationale Arbeitsorganisation – aber auch eine Reihe von Kinderrechtsexperten – kritisieren, dass durch das bolivianische Kinder- und Jugendgesetz die ILO-Konvention 182 über die „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“ aufgeweicht – und einfach ein in die falsche Richtung gehendes, leicht mißzuverstehendes politisches Signal gesetzt würde. Wie begegnet Ihr diesem Einwand?

Juan Pablino: In meiner Heimat, in Paraguay, müssen Kinder, die gezwungen sind, etwas zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen, ganz oft an Polizisten Schmiergelder bezahlen, um beispielsweise als Schuhputzer oder Lastenträger auf dem Markt in Ruhe gelassen zu werden. Das war früher auch in Bolivien immer so – und wir kennen derartige Praktiken auch aus anderen lateinamerikanischen Ländern, in denen Kinderarbeit offiziell verboten ist. Hallo – ist das etwa ok? Wir erwarten von der ILO, – das sind ja ganz oft Leute aus Gewerkschaften – dass sie uns erst einmal zuhören und dann mit all ihrer Erfahrung und ihrem Fachwissen mithelfen, um das, was in dem bolivianischen Gesetz an Schutzregeln für Kinder festgelegt wurde, umzusetzen, zu verbessern und nachzuhalten. Und wir brauchen auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ein Umdenken bei den politisch Verantwortlichen: Wir wollen Schutz vor Ausbeutung, Unterstützung beim Einfordern unseres Rechts auf Bildung – und Anerkennung für das, was wir leisten.

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(Fotos: Jürgen Schübelin, Kindernothilfe)