Erfahrungen, die mich bewegen
Salomé Heindrichs, Freiwillige in Tirani
Hola!
Mittlerweile lebe ich schon seit 9 Monaten im schönen Tirani. Die Zeit verfliegt… leider!!!
Ich arbeite morgens im Kindergarten „Ch’askalla“ mit meinen süßen – aber anstrengenden – dreijährigen Kiddies und nachmittags in der Hausaufgabenbetreuung “Apoyo“ mit den 1. und 2. Klässlern – kleine (B)engel – aber die liebe ich genauso und die passen zu mir.
Die Arbeit und das Leben hier insgesamt machen mir sehr viel Spaß, man bekommt auch so viel zurück von dem, was man gibt und ich genieße meine letzten drei Monate Freiwilligendienst. Wohl bin ich traurig, wenn ich an den Abschied denken muss, obwohl ich mich ja schon auf meine Freunde und Familie freue.
So… Ich habe einen Artikel über die Gewalt hier geschrieben; die Gewalt die mir aufgefallen ist. Diesen Artikel habe ich ziemlich zu Beginn meines Aufenthaltes hier geschrieben. Natürlich schmerzt es auch jetzt noch immer, dass man als Freiwillige nichts dagegen machen kann, aber mit der Zeit gewöhnt man sich leider irgendwie daran, solche Erlebnisse zu hören. Traurig, nicht wahr? Doch noch immer denke ich mir: Wie tapfer diese Kinder doch sind… oder ist es für sie auch schon eher eine Gewohnheit?
Hier dann mein Bericht:
Letzte Woche in der Hausaufgabenbetreuung : Ich sitze mit den achtjährigen Kindern und der Educadora (Erzieherin) um den Lerntisch und wir spielen ein Spiel, in dem es darum geht, den Finger so schnell wie möglich zu heben, wenn die Antwort auf die gestellte Frage „Ja“ lautet.
Educadora: „Wer hat seine Mama und seinen Papa?
Verschiedene Kinder heben den Arm.
Educadora: „Wer hat nur seine Mama und wer hat nur seinen Papa?“
Andere Kinder zeigen den Finger und mir zerbricht schon das Herz.
Educadora: „Wer hat Geschwister?“
Verschiedene melden sich.
Educadora: „ Gut. Wer hat denn schon seine Geschwister geschlagen?“
Kinder: „ICH!“ „ICH AUCH! Meine Schwester!“
Educadora: „Aha. Und wer hat schon seine Eltern streiten gesehen?“
Kinder: „ICH! Boah, die haben sich so krass gestritten!“
Educadora: „ So, und wer hat schon gesehen, wie der Papa die Mama geschlagen hat?“
Kinder: „ICH!“ „ICH AUCH! Der hat sie so krass geschlagen!“ „ICH AUUUCH! ICH HABE ALLES GESEHEN!“
Das Gespräch ging dann richtig los. Die Kinder sprachen davon, als ob es normal sei, dass der Papa die Mama schlägt. Und erzählt haben sie das mit richtiger „Begeisterung“, und ich saß nur dazwischen und traute meinen Ohren nicht.
Und hiermit komme ich zu meinem Thema: „Die Aggressivität“, später „Der Mangel an Zuneigung/Aufmerksamkeit“. Warum ich darüber schreiben möchte, ist jetzt schon klar:
Dieses Ereignis hat mich sehr betroffen gemacht, so dass ich fast angefangen habe inmitten der Kinder zu weinen. Es tat mir so weh, von diesen unschuldigen kleinen Menschen zu hören, dass sie das regelmäßig erleben und auch zu hören, dass es für sie nicht „anormal“ ist.
Aber dieses Ereignis war nur der Auslöser, warum ich jetzt darüber einen Bericht schreiben möchte (obwohl ich ja gar nicht gerne so etwas schreibe).
Es ist mir auch in nicht so schlimmen Fällen aufgefallen, was bei einigen Kindern zu Hause abläuft. Zum Beispiel erzählen mir die Tias (Betreuerinnen), warum Eltern manchmal die Kinder überhaupt nicht abholen: weil sie zu betrunken sind. Oder man sieht, dass der Rücken eines extrem anstrengenden Kindes voller blauer Flecken ist.
Viele Kinder, die den Kindergarten besuchen, sind sehr aggressiv, schlagen ständig oder schimpfen wie Erwachsene. Natürlich kann es davon kommen, dass sie das zu Hause leider auch so erleben und dann alles nachahmen (was bei Kindern üblich und natürlich auch normal ist).
Aber es gibt meiner Meinung nach auch ein anderes Motiv dafür:
Manche Kinder bekommen überhaupt keine Aufmerksamkeit zu Hause. Woran wir das merken?
Beispiel 1: Ein Kind wird regelmäßig im Apoyo geduscht, weil sein Geruch wirklich unerträglich ist. Warum? Weil der Junge einer von 10 Kindern ist und eins der jüngsten und deshalb beachtet ihn auch keiner und oft ist auch einfach keiner zu Hause.
Beispiel 2: Kinder, die brüllen, damit man sie beachtet. Im Apoyo gab es ein kleines Mädchen, das einfach so unerträglich anstrengend und laut war, dass keiner mit ihm arbeiten wollte. Und ganz ehrlich gesagt, begeistert war ich auch nicht davon, als die Educadora meinte, ich sollte das jetzt machen. Egal, ich habe mich dann zu ihr gesetzt. Ihr Heft: eine Katastrophe, alles schmutzig und zerrissen. Dann fing ich an: „So setz‘ dich jetzt hin, wir machen deine Hausaufgaben.“ Lust hatte sie natürlich keine und tobte nur und schrie. Ich habe sie öfters sehr lieb gebeten, ihren Text jetzt endlich abzuschreiben, aber nein, sie wollte nicht. Motivation gleich Null! Dann wurde ich strenger zu ihr, aber das interessierte sie genauso wenig.
Und dann wurde mir klar, dass es gar nichts bringen würde, die Stimme zu heben, und meinte einfach: „Hör mal, wenn du das jetzt schön abschreibst, dann bin ich so richtig stolz auf dich und dann erzähle ich all meinen Freunden und meiner Familie, dass du das so toll hinbekommen hast.“ Und dann guckte sie mich plötzlich mit großen Augen an und begann alles schön ordentlich abzuschreiben, sie hat sogar den ganzen Text geschrieben, was sonst noch nie der Fall war.
Es klingt kitschig und doch ist es wahr: Es hat mich selbst gewundert. Als sie fertig war, lobte ich sie, dass sie das sehr gut gemacht habe, und sie meinte dann: „Du wirst es dann allen erzählen, ja?“ „Klar, mache ich das.“ Und hier steht es ja jetzt.
Einen Tag später kam ihre Mutter dann vorbei. Als wir zu ihr sagten, ihre Tochter bräuchte ein neues Heft, kam keine Antwort, und als das Kind dann einen Kuss von ihr wollte, drückte die Mutter sie nur weg. Um ihre Aufmerksamkeit doch noch zu kriegen, wurde das Mädchen wieder laut und zeigte ihr dann auch den Text, den es so schön abgeschrieben hatte. Die Reaktion der Mutter, die natürlich gar nicht hingeschaut hatte: „Ja ja, ist ja gut. Ich muss jetzt gehen.“
Ich habe die Enttäuschung in den Augen des Mädchens gesehen und ich war genauso enttäuscht; ich konnte nur die Kleine noch einmal für die gute Arbeit loben.
Die Kinder im Kindergarten, die genauso wild sind, versuchen wir auch anders zu beruhigen, als sie zu schlagen oder zu brüllen; außer dass es eine schlechte Reaktion wäre, hätte es auch gar keinen Erfolg, denn das erleben sie ja sowieso ständig.
Und wenn sie heftig weinen, weil sie bestraft wurden und dann diese ganze Wut hochkommt, dann gehe ich zu ihnen und erkläre ihnen, dass sie sich beruhigen sollen und sich dann entschuldigen sollen usw. Meistens klappt es dann auch.
Da wir ja merken, dass von zu Hause keine Aufmerksamkeit – oder eben die falsche – kommt, kriegen sie sie von uns. Umarmungen und Küsschen gehören schon fast genauso sehr zu unserem Arbeitsplan wie Spielen und Basteln. Ständig liegen Kinder in unseren Armen und sie beruhigen sich sofort, wenn man sie einmal liebevoll drückt.
Diese unschuldigen kleinen Kinder schreien nach Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, die sie zu Hause nicht bekommen, weil keiner da ist oder weil keiner sich um sie kümmern kann oder will.
Und das versuchen wir hier zu ändern. Wir versuchen ihnen zu zeigen, dass es einen Ort gibt, wo sie herzlich willkommen sind, wo versucht wird, sie zu verstehen und wo sie die Liebe bekommen, die ihnen zu Hause fehlt.
Unsere Belohnung dafür? Ständige Umarmungen, herzliche Begrüßung jeden Tag, schöne Worte wie „Ich liebe dich, Tia“ , Lachen und Blumen, welche die Kinder bis zu uns nach Hause bringen.
Gibt es etwas Schöneres als das? Meiner Meinung nach nicht. Ich denke, dass wir alle darin einen Teil unserer Kraft und Motivation finden, diese Arbeit jeden Tag zu machen und zwar mit viel „paciencia y cariño“ – mit Geduld und Liebe.