Polizeigewalt in Chile lässt nicht nach

Granaten auf die Köpfe:

Gummigeschosse darf Chiles Polizei kaum mehr einsetzen. Jetzt zielt sie mit Tränengasgranaten direkt auf die Protestierenden. Ein Mensch stirbt.

In Chiles Hauptstadt Santiago am Mittwoch: Ein verletzter Demonstrant wird von Sanitätern behandelt 11.03.2020. Foto: REUTERS/Pablo Sanhueza

SANTIAGO DE CHILE taz |

Die DemonstrantInnen am Plaza Italia, den sie auf Plaza Dignidad (Platz der Würde) umgetauft haben, tragen mittlerweile nicht mehr nur eine Gasmaske und eine Schutzbrille, sondern auch einen Helm beim Protest. Der Einsatz von Gummigeschossen durch die Polizei wurde zwar eingeschränkt, nachdem innerhalb weniger Monate hunderten Menschen in die Augen geschossen wurde. Dafür schießen die Carabineros jetzt aber mit Tränengasgranaten auf die Körper und vor allem die Köpfe und Gesichter der Protestierenden.
Der 48-jährige Cristián Valdebenito ist das erste Todesopfer, das die Tränengasgranaten der Polizei verursacht haben. Er protestierte am vergangenen Freitag am Plaza Dignidad, als er von einer Granate am Kopf getroffen wurde. Anschließend behandelten ihn freiwillige Ersthelfer*innen und brachten ihn mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma in die Notaufnahme des naheliegenden Krankenhauses. Am Samstagmorgen starb er an den schweren Verletzungen.

Beim selben Protest wurden neun weitere Personen durch Tränengasgranaten verletzt, drei erlitten Augenverletzungen. Einer von ihnen ist der 24-jährige Dante Davagnino, der von einer Granate im Gesicht getroffen wurde und jetzt auf einem Auge blind ist. Er studiert Musik an der Universidad Academia Humanismo Cristiano, die auch der 22-jährige Gustavo Gatica besuchte, der im November komplett erblindete, nachdem ein Polizist ihm mit Gummigeschossen in beide Augen schoss.
„Es ist ungeheuerlich, dass wir erneut Zeugen einer Situation von maßloser Polizeigewalt werden, der die Jugendlichen zu Opfer fallen. Es handelt sich um eine systematische und illegale Aktion in einem Kontext der Straflosigkeit, die die Gewalt durch den Staat seit dem 18. Oktober charakterisiert“, sagte der Rektor der Universität Álvaro Ramis, nachdem der Fall von Davagnino bekannt wurde.
Gehirnerschütterungen und Knochenbrüche
Das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) erklärte: „Wir verurteilen und bedauern den Todesfall und die neuen Fälle von Augenverletzungen, die uns zwingen, die Polizeikräfte daran zu erinnern, dass der Einsatz von Gewalt proportional sein und die internationalen Menschrechtsstandards respektieren muss.“
Dem INDH zufolge wurden bisher 271 Personen durch Tränengasgranaten verletzt, die Zahl sei in den letzten Wochen stark angestiegen. Beim Aufprall auf dem Körper können die Granaten nicht nur schwere Verbrennungen und Verätzungen, sondern auch Gehirnerschütterungen und Knochenbrüche verursachen, abgesehen von Atemwegserkrankungen und Hautkrankheiten durch das Gas. „Die Tränengasbomben sollten das letzte Mittel sein, dass die Polizei einsetzt, nicht das erste. Es ist unverantwortlich, diese chemische Waffe willkürlich einzusetzen“, heißt es in einem Bericht der Fakultät für Chemie der Universidad de Santiago.
Zugenommen haben auch die Fälle von Prügelattacken durch Polizist*innen. Auch Journalist*innen, MenschenrechtsbeobachterInnen und ErsthelferInnen werden immer wieder angegriffen.

Am vergangenen Sonntag wurde der 69-jährige Patricio Bao während der Proteste zum Weltfrauentag von einer Gruppe Polizist*innen mit Schlagstöcken brutal verprügelt. Der Fall wurde durch ein Video sofort auf sozialen Netzwerken verbreitet. „Die Polizisten handeln maßlos und ohne jegliche Kriterien. Niemand sagt ihnen, dass ihre Vorgehensweise schlecht ist. Als ich versucht habe, aufzustehen, haben sie grundlos weiter auf mich eingeschlagen“, sagte Bao anschließend in einem Interview im Nationalfernsehen TVN.
Innenminister Gónzalo Blumel sagte zu der Prügelattacke: „Es handelt sich um eine Aktion der Polizei, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.“
Obwohl Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte sowie die Vereinten Nationen bereits mehrfach auf die Verletzung der Menschenrechte durch die Polizei in Chile aufmerksam gemacht haben, streitet die Regierung ihre Verantwortung ab und spricht von Einzelfällen.
Abgeordnete der Opposition planen deshalb eine Verfassungsklage gegen den Innenminister Blumel. Eine Gruppe von Senatoren arbeitet an einem Bericht, um Piñeras Amtsenthebung wegen „körperlicher und geistiger Unfähigkeit“ zu fordern.