VERÄNDERUNGEN IN CHILE ???

In Chile sind zurzeit Sommerferien und genau wie hierzuland steht dann alles auf Sparflamme. Kein Wunder also, dass Berichte von Großdemos, wie sie in den vorigen Monaten wöchentlich auf der Tagesordnung standen, aus den Schlagzeilen verschwunden sind.

Wir möchten Ihnen deshalb folgende 2 Beiträge zur Lage in Chile besonders empfehlen.

Zum einen die Einschätzung der allgemeinen Lage in Chile von Silvana Buholzer Rivera, der Direktorin unser langjährigen Partnerorganisation KAIRÓS in Santiago de Chile.

Zum anderen ein Artikel des Nachrichtenforums „agência latina press – Nachrichten aus Lateinamerika und der Karibik“ über den Versuch der aktuellen rechten Regierung, die Diktatur unter Genaral Pinochet in den neuen Schulbüchern zu minimisieren.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

Santiago de Chile, 21. Dezember 2011
Zuerst einmal möchten wir euch fröhliche Weihnachten und ein gutes Neues Jahr 2012 wünschen. Auf dass es ein Jahr voller Hoffnung werde, die Welt ein bisschen brüderlicher und solidarischer zu machen.

Die letzten zwei Jahre waren für Kairós  voller Schwierigkeiten und Unsicherheiten. Die Veränderungen, die unser Land durchgemacht hat, sind nicht die Veränderungen, die die neue Regierung im Jahr 2010 in Angriff nehmen wollte. Bei den unerfüllten Versprechen handelt es sich um soziale, politische und ökonomische Angelegenheiten. Der Führung fehlte es an Klarheit und sozialem Gespür. Bisher wurde von den vielgeführten Debatten über gute Arbeitsbedingungen, Transparenz und den großen Veränderungen, die das Land benötigt, noch nichts in die Tat umgesetzt.

Das Jahr 2011 wurde durch den  Protest  der Bürger, vor allem der jungen Studenten, gekennzeichnet, die von den Politikern des Landes und ihrer Art und Weise Politik zu machen, enttäuscht sind. Die Studenten haben uns auf großartige Weise gezeigt, wie Bürgerbeteiligung funktioniert und dass es unbedingt notwendig ist, sich um die wichtigsten Dinge unserer Gesellschaft zu kümmern:  die Bildung, die gerechte Verteilung der finanziellen Mittel und die Gleichbehandlung. Dies ist die Grundlage, um bedeutende Veränderungen in der Gesellschaft durch Mitbestimmung der Bürger zu erreichen.

Wir möchten euch zwar einige relevante Entwicklungen unseres Landes mitteilen, aber ebenso möchten wir euch wissen lassen, dass wir die Geschehnisse in Europa sorgenvoll mit verfolgen. Dies tun wir nicht nur, weil sich dies auch auf unsere wirtschaftliche Lage  auswirkt, sondern weil sicherlich viele Menschen unter dieser großen Unsicherheit leiden, die es im sozialen Bereich und auf dem Arbeitsmarkt gibt. Dies bedauern wir sehr.

Wie bereits erwähnt, ist dieses Jahr durch die vielen Demonstrationen der Studenten gekennzeichnet, die staatliche und kostenlose Bildung und das Ende der privaten Universitäten fordern. Diese Themen rütteln an unserer politischen und sozialen Struktur, da solch tiefgreifende Veränderungen notwendigerweise Veränderungen der chilenischen Verfassung des Jahres 1980 voraussetzen. Die Politiker der Rechten, die derzeit unser Land regieren, sind nicht dazu bereit, diese Veränderungen in Angriff zu nehmen.

Die Bildung ist seit dem tiefgreifenden Eingriff der Militärregierung von 1981 in privater Hand gewesen, als handele es sich dabei um ein Konsumgut. Denn nur wohlhabende Familien können es sich leisten, ihre Kinder zur Universität zu schicken; Familien des Mittelstandes ist dies nur durch Kredite möglich, die sie mit hohen Zinsen über mindestens 20 Jahre zurückbezahlen müssen; während Familien mit geringen finanziellen Mitteln  nicht einmal davon träumen können, ihren Kindern einen Universitätsabschluss zu ermöglichen. Für Leute aus Familien mit geringem Einkommen gibt es allerdings die Möglichkeit, ein Stipendium zu erhalten. Dafür müssen aber eine Reihe von Voraussetzungen, wie z.B. gute Noten im Gymnasium, erfüllt sein. Doch wissen wir, dass Kinder mit Eltern aus einer niedrigen Bildungsschicht und schwierigen Arbeitsbedingungen wenig Chancen haben gute Schüler zu sein, da sie unter erschwerten Bedingungen lernen müssen. So ist es also nur ein kleiner Prozentsatz, der sich den Traum zu studieren erfüllen kann.

Zweifelsohne ist dieses Bildungsthema kein neues, sondern begleitet uns schon seit langer Zeit.
Die Krise, die das Bildungssystem Chiles durchlebt, hat seine Wurzeln in der Belastung und den negativen Bedingungen des neoliberalen Modells während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973 – 1990).  Unter der demokratischen Regierung der letzten 20 Jahre wurde dieses überaus sensible und wichtige Thema “Bildungssystem” bis heute nicht angegangen. Die Forderungen der Studentenbewegung gehen über das Bildungsthema hinaus. Die Studenten fordern eine Veränderung des sozioökonomischen neoliberalen Marktmodells, wie z.B.  Steuerreform und  Verstaatlichung des Kupferbergbaus. Vom politischen System verlangen sie wahrhafte partizipative Demokratie.
Die Studenten werden sich weiterhin engagieren und gegen das aktuelle Bildungssystem demonstrieren, da die Regierung bisher auf keine der Petitionen eingegangen ist, die auch von der Bürgerinitiative unterstützt werden. Mehr als 80 % der Chilenen möchten radikale Veränderungen im staatlichen Bildungssystem und im politischen System.

Ein anderes großes Versprechen, das  die Regierung uns gegeben hat, ist , die Kriminalität zu beseitigen. Die Kriminalität entsteht unter anderem durch soziale Ungerechtigkeit. Chile ist eines der Länder Lateinamerikas mit der größten Ungleichheit. Die Schere zwischen Geringverdienern und Menschen mit hohem Einkommen wird immer größer. Zudem sind die Arbeitsplätze unsicher und die Löhne so gering, dass sie oft nicht einmal  das zum Leben Notwendige abdecken.

Der Kriminalität wird nicht abgeholfen, indem die Regierung mehr Gefängnisse baut. Wir glauben, dass es weniger Kriminalität geben wird, wenn alle Menschen in der Gesellschaft gleichberechtigt sind und es eine gerechte Verteilung der Mittel gibt. Nach den neuesten Statistiken ist die Kriminalität  im letzten Jahr um 10% gestiegen. Ein weiteres nicht erfülltes Versprechen.

Was das Thema  Arbeit betrifft, so sinkt laut Regierung die Arbeitslosigkeit. Allerdings wird dabei nicht erwähnt, wie unsicher die neu geschaffenen Stellen sind. Das nationale Institut für Statistik teilt mit, dass die Arbeitslosigkeit 7,2% erreicht hat. In der Region der Hauptstadt Santiago, in welcher sich 40% der Arbeitskräfte Chiles befinden, übersteigt die Zahl der Arbeitslosigkeit den Landesdurchschnitt mit 7,6%.

Die höchste Arbeitslosigkeit besteht mit 9%  in der verarmten Region La Araucania, im Süden des Landes, in welcher hauptsächlich die indigene Bevölkerung der Mapuche lebt. Selbst dieser Prozentsatz spiegelt nicht die tatsächliche Arbeitslosigkeit wider, da die Personen, die nur ein paar Stunden im Monat gearbeitet haben, bereits als “beschäftigt” gelten. Die neuen Arbeitsplätze bringen sehr geringe Löhne und kurzzeitige Arbeitsverträge mit sich. Außerdem sind die Arbeitsbedingungen oft miserabel.

Unter diesen Rahmenbedingungen arbeitet Kairós, mit sehr wenig Sicherheit, was die Entwicklung der Sozialpolitik anbelangt und ob es auch weiterhin Programme zur Finanzierung der sozialen Arbeit von Kairós geben wird. Wir stellen mit Bedauern fest, dass die finanzielle Unterstützung für unsere Arbeit immer weniger wird und dass die Prioritäten auf lukrativere Projekte  gesetzt werden. Es ist sehr schwierig für uns, unsere Aktivitäten  zu planen, da wir nie wissen, wie lange wir noch mit staatlicher Finanzierung rechnen können.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde, wir wollten euch in diesem Rundbrief einige Aspekte und Entwicklungen unseres Landes mitteilen, die wesentlich für unsere Arbeit sind.

Wir haben Glück gehabt, dass Anne Beyer, eine junge Psychologin aus Deutschland, Anfang Dezember zu uns gekommen ist, um einige Monate mit uns im Projekt zu arbeiten und uns geholfen hat diesen Brief ins Deutsche zu übersetzen und uns von ihren Eindrücken über unsere Arbeit erzählt.

Wir bedanken uns bei jedem Einzelnen von euch für eure solidarische Unterstützung, die es uns möglich macht, dass unsere Organisation weiterhin ihre Projekte für die verwundbarsten Menschen unseres Landes durchführen und weiter entwickeln kann.

Un fuerte abrazo,

SILVANA BUHOLZER RIVERA
DIRECTORA EJECUTIVA
CORPORACION KAIRÓS

http://www.kairosorg.cl/

Nationaler Bildungsrat streicht “Pinochet-Diktatur” aus Schulbüchern

Ära von General Pinochet soll Grundschülern „ausgewogener“ vermittelt werden

Aus der “Diktatur” wird das “Militärregime”, aus dem “Militärputsch” die “militärische Machtübernahme”: in Chile soll zukünftig Grundschülern die Schreckensherrschaft von General Augusto Pinochet mit seinen knapp 40.000 Opfern “ausgewogener” vermittelt werden. Einen entsprechenden Beschluss zur Abänderung der Schulbücher und des Unterrichtsmaterials hatte der Nationale Bildungsrat NCED bereits im November beschlossen, die Entscheidung wurde jedoch erst am heutigen Mittwoch (4.) bekannt.

Bildquelle: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile

In den ersten Klassen werden die Schülerinnen und Schüler zwischen sechs und zwölf Jahren damit nichts mehr von einem “blutigen Militärputsch” hören müssen. Diese Terminologie passt anscheinend nicht mehr ins Bild der derzeitigen Rechtsregierung unter Staatspräsident Sebastián Piñera. Inwieweit der Milliardär selbst Einfluss auf die nun heftig diskutierte Entscheidung genommen hat ist unklar. Gerade die Angehörigen der Opfer – über 3.000 Oppositionelle werden auch heute noch vermisst – sehen dies als massive Geschichtsfälschung an. Der Präsident des Sozialistischen Partei des Landes, Osvaldo Andrade, fand zunächst nur ironische Worte: “Es hat Ohren wie eine Katze, den Körper einer Katze, es miaut wie eine Katze – aber manche Leute wollen, dass man es Hund nennt!”

Bildungsminister Harald Beyer erklärte am Mittwoch (4.), es selbst habe kein Problem damit, die Epoche von 1973 bis 1990 unter Pinochet als “diktatorische Regierung” zu bezeichnen, der Rat habe jedoch im November beschlossen, zukünftig “den allgemeineren Begriff Militärregime” zu verwenden. Vor der Entscheidung seien auch zahlreiche Pädagogen, Berater und Sachverständige gehört worden. Für den Kongressabgeordneten Alberto Cardemil, der bereits unter Pinochet Minister war, bedeutet die Änderungen vor allem “eine technische und fachliche Anstrengungen des Ministeriums für Bildung, der Geschichte ein ausgewogeneres Bild zu geben.” Dies sei nichts ungewöhnliches, sämtliche Länder würden mit der Zeit ihre eigene Geschichte “überarbeiten”.

Für Ex-Präsident Eduardo Frei (1994-2000) ändert die Neudefinierung jedoch keinesfalls die Geschichte oder deren Bild. “Im Bewusstsein Chiles und im internationalen Bewusstsein gab es in Chile eine beschämende Diktatur und dies wird niemand durch einen Text oder eine Stellungnahme ändern” so der heutiger Senator für die Opposition. Er selbst hatte wie viele andere auch erst am Mittwoch von den Änderungen erfahren. Ans Licht kam die heimliche Umschreibung der Geschichte auch nur durch die gesetzlich vorgeschriebene Veröffentlichung im chilenischen Amtsblatt. Die NCED hatte sich im Vorfeld in Hinblick auf ihren Beschluss vollständig in Schweigen gehüllt.