von Julie Kipgen, unserer Kooperantin in Bolivien von Januar bis Dezember 2012
Wie soll ich auf zwei Seiten zusammenfassen, was ich in zwei Tagebüchern, auf 32GB Fotos, in unzähligen Telefon- oder Skypegesprächen, in vielen Emails, auf meinem Blog http://julieencochabamba.wordpress.com/ oder in meinen Erinnerungen festgehalten habe? Das waren meine Möglichkeiten, meinen Bekannten in Europa zu erzählen, was ich während 11 Monaten in Bolivien erlebt habe. Einige von ihnen besuchten mich, und ich denke, dass sie mich nachher besser verstehen konnten. Und trotzdem: Ich habe das Gefühl, es gibt Dinge, die man nur versteht, wenn man selbst ein Jahr lang in einer völlig anderen Kultur gelebt hat.
Ich habe viel erlebt in diesem Jahr. Ich brauchte erstmal einen Monat, um mich an alles Neue zu gewöhnen. Ich bekam so viele Eindrücke, dass ich zuerst alles sehen, anfassen, schmecken, riechen,… wollte. Die Leute sahen anders aus, trugen andere Kleidung, sprachen eine andere Sprache, eine Sprache, die ich noch nicht gut kannte. Die Gebäude waren anders, die Straßen schmutziger, der Verkehr lauter, überall elektrische Kabel, immer musste ich aufpassen, was ich trank oder aß, um nicht krank zu werden. Der öffentliche Transport funktionierte nicht wie in Europa. Manchmal regnete es tagelang, oder es regnete während 6 Monaten überhaupt nicht … Am Anfang war es schwierig, mich zurechtzufinden. Doch die Leute machten es mir einfach! Sie waren so offen und großzügig, dass ich mich schnell wohl fühlte. Alle waren sehr freundlich mit mir und ich hatte schnell das Gefühl, willkommen zu sein.
Ich wohnte in Tirani, dem Dorf in dem ich auch arbeitete. Tirani liegt 20 Minuten im Taxi (45 Minuten mit dem Bus) vom Zentrum Cochabambas entfernt. In einem Dorf zu wohnen, wo es nur kleine Läden und einen kleinen Sonntagsmarkt gibt, wo es manchmal nur kaltes oder gar kein fließendes Wasser gibt, oder wo die Elektrizität manchmal ausfällt, oder von wo man nicht in die Stadt kommt, weil die Transporte wieder streiken, war eine kleine Herausforderung für mich. Aber ich habe mich schnell daran gewöhnt, und habe es dann sogar genossen: Ich habe mir mehr Zeit zum Lesen und Schreiben genommen, oder es einfach genossen, das Wochenende in Tirani zu verbringen, ohne Stress das Haus zu putzen und meine Wäsche zu waschen.
Unter der Woche arbeitete ich morgens im Kindergarten „Ch’askalla“ und nachmittags in der Hausaufgabenbetreuung im Kulturzentrum „Rijch´ariy“. Ich wohnte mit einer deutschen Freiwilligen und einer jungen bolivianischen Familie zusammen. Dass ich mich in der Wohnung wohlfühlte, hat mir sehr geholfen, mich angekommen zu fühlen. Schnell hatte ich mich eingelebt.
Bei der Arbeit habe ich mich auch schnell wohl gefühlt. Das Personal ist sehr jung und dynamisch. Sie sind alle sehr nett, lachen sehr viel und ich hatte das Gefühl, zu ihnen zu gehören. Als dann Schulbeginn war und die Kinder kamen, habe ich mich noch besser gefühlt. Ich konnte verstehen, was die Kinder sagten und sie verstanden mich! Sie haben mich sofort umarmt und mich bei der Hand genommen. Ich fand es einfach toll, in so einer Atmosphäre zu arbeiten.
Am Anfang hatte ich so meine Schwierigkeiten, die bolivianische Art und Weise zu arbeiten, zu verstehen und nicht zu sehr mit Europa zu vergleichen. Wie sollte ich denn auch damit klarkommen, dass um 14 Uhr eine Versammlung stattfinden soll und um 14:30 Uhr noch niemand da ist und schließlich alles um 16:00 Uhr beginnt, mitsamt den Kindern der Erzieherinnen, die zum Teil noch zwischendurch gestillt wurden. Oder wenn ein Fest geplant wird, und kein Geld vorhanden ist, um Kuchen oder Luftschlangen zu kaufen, und am Tag des Festes alles spontan organisiert werden muss. Dies, um nur einige Beispiele zu nennen.
Nach und nach habe ich mich auch daran gewöhnt, lockerer und spontaner zu werden, nicht alles gleich so eng und streng zu sehen. Da ich ein ehrgeiziger Mensch bin, wurde ich manchmal ungeduldig. Aber, ich musste einsehen, dass die Arbeit auch so irgendwie funktionierte. Trotzdem freute ich mich sehr, als ich den Eindruck hatte, dass meine Bemerkungen und Vorschläge gut ankamen. So habe ich ein paar Monate lang einer Erzieherin im Kindergarten geholfen und im Kulturzentrum habe ich mich um die Ludothek gekümmert. Nach und nach, als mehr Freiwillige da waren, bekam ich spezifischere Aufgaben und konnte eigenständiger arbeiten.
Ab diesem Moment wollte ich dann auch so viel wie möglich kennenlernen. Ich wollte andere Projekte der Fundación und Niños de la Tierra sehen, ich wollte verschiedene Arbeiten kennenlernen und genauer wissen, wie die Leute in Tirani leben, ich wollte mehr über die Kultur erfahren. So habe ich dann zum Beispiel drei weitere Projekte besucht, ich habe die Köchinnen begleitet, ging frühmorgens Obst und Gemüse für den Kindergarten auf den Markt kaufen,
ich half Kartoffeln ernten und Blumen pflücken (Haupteinkommensquelle der Bewohner aus Tirani), ich war in einer „Tinku-fraternidad“ (Gruppe die einen typischen, traditionellen Tanz aufführt) …
In diesen 11 Monaten habe ich sehr viel gesehen und gelernt. Durch den engen Kontakt mit den Arbeitskollegen und den Menschen aus dem Dorf habe ich Dinge erlebt und gelernt, die man nicht als Tourist in einer zweiwöchigen Bolivienrundreise sieht. Ich habe die Gastfreundschaft der Bolivianer kennengelernt, ich habe es bewundert, wie viel meine Kolleginnen lachten und sich gegenseitig in den Arm nahmen, wenn man es brauchte oder wie sehr sie sich über Kleinigkeiten freuten, wieviel Energie, Mut und Motivation sie hatten und wieviel Geduld sie den Kindern gegenüber aufbrachten. Ich habe meine Arbeitskolleginnen sehr bewundert!
Ich habe aber auch gesehen, wie die Kinder leben, wo sie wohnen, was sie essen, wie die Eltern oder auch die Kinder arbeiten, was sie verdienen, wie drogenabhängige Kinder auf der Straße leben. Mir wurde berichtet, dass viele Eltern trinken (ich habe das auch gesehen), wie die Lehrer und Eltern die Kinder schlagen, wie unzureichend das Gesundheitssystem ist. Ich habe erkannt, was Armut heißt. Nicht nur materielle Armut, sondern auch fehlende Bildung und Ausbildung. Viele Erwachsene mussten die Schule sehr früh abbrechen, um die Eltern finanziell zu unterstützen. Sie lernten nie richtig schreiben oder lesen. In vielen Familien herrscht Gewalt. So wissen heute noch viele Eltern nicht, wie man ein Kind richtig erzieht, was ein Kind essen soll, dass man es nicht schlägt, wie man sich wäscht … Sie können ihren Kindern auch nicht bei den Hausaufgaben helfen, weil sie keine Zeit haben oder weil sie es selbst nicht können. Ich habe erfahren, wie sich der Mangel an Bildung auf das Leben der Menschen auswirkt.
Doch ich habe auch Hoffnung, ich habe gesehen, dass es voran geht. In Tirani können die Eltern ihre Kinder zur Tageskrippe bringen, solange sie arbeiten. Im Kindergarten wie auch im Kulturzentrum bekommen die Kleinen eine gute Betreuung mit viel Raum zum Spielen, Essen, Schlafen und Lernen. Außerdem wird mit den Eltern gearbeitet: Auf Versammlungen lernen sie Verantwortung für ihre Familie und ihre Gemeinde zu übernehmen.
Die Eltern sind sehr dankbar dafür, dass es diese zwei Zentren in Tirani gibt. Und die jungen Erzieherinnen freuen sich, weil sie über dieses Projekt eine Ausbildung und eine Arbeit bekommen haben. Ich selbst war froh, dass ich ein Jahr lang meinen Anteil als Freiwillige zu diesem Projekt beitragen konnte. Ein solcher Austausch bringt jedem was. Ich kann nur sagen, dass ich sehr schnell gemerkt habe, wie gut wir es in Europa haben und dass wir den Entwicklungsländern helfen können!