Ein Jahr in Chile


von Dorothée Franzen, unserer Kooperantin in Chile von September 2012 bis September 2013
„Jede Reise hat ihren Anlass und meiner hat mit Überdruß und jugendlichem Leichtsinn zu tun, mit dem Wunsch, aus den gewohnten Verhältnissen auszubrechen und das Leben und die Welt kennenzulernen.“
Die Stadt der träumenden Bücher, Walter Moers
Vor genau einem Jahr stand ich mit meinen vollgepackten Koffer am Flughafen und versuchte noch einen letzten Blick auf all die lieben Menschen zu erhaschen, die gekommen waren, um mich zu verabschieden. Ich weiß noch, wie schwer es mir fiel, die Gesichter richtig wahrzunehmen. Tausend Gedanken und Bilder rasten mir durch den Kopf. Hatte ich alles dabei? Würde ich das Flugzeug in Paris finden und wie war noch einmal das spanische Wort für „Mittagessen“? Und auf einmal saß ich auch schon im Flugzeug, ließ Luxemburg unter mir zurück und schaute zu, wie sich die Straßen, Häuser und Menschen, die bislang die Kulisse meines Lebens formten, zu Ameisenhaufen wurden, bis ich irgendwann nur noch in eine dichte Nebelwand blickte.
Ich war unterwegs nach Chile. Hinter diesen Wolken warteten ein neues Leben, neue Menschen und unendlich viele Erfahrungen. Ich konnte es kaum erwarten.
Es kommt mir vor, als wäre ich gestern losgeflogen, doch meine Anfangszeit, die ersten Wochen und Monate sind schon in meiner Erinnerung so weit nach hinten gerückt, als wären sie Jahre her. In Chile am Flughafen holte mich eine andere Freiwillige ab. Nach einer halsbrecherischen Fahrt über die chilenische Autobahn kamen wir in der EFPO an, dem Büro der Fundación. Dort lernte ich Helga, die gute Fee der Freiwilligen kennen, die mich mit offenen Armen aufnahm und bei der man sich nur wohlfühlen konnte.

Helga inmitten „ihrer“ Freiwilligen
Einen besseren Empfang als den, der mir durch Helga zuteil wurde, kann man sich nicht wünschen. Sie betreut schon seit Jahren die Freiwilligen und kümmert sich sowohl um unsere „Problemchen“ als auch um die ausgewachsenen Riesenbrummer, die einem das Leben zur Hölle machen und einen zur Verzweiflung treiben. Wir nennen sie liebevoll unsere „Oberfreiwillige“.
Nach einem kurzen Einführungsgespräch brachte sie mich in den Kindergarten, wo ich sofort anfing zu arbeiten. So lernte ich auch gleich meine erste Lektion: Du wirst gebraucht und die Menschen zählen auf dich. Jetlag und Reisemüdigkeit hinunterschluckend fing ich also an zu arbeiten.
Ich wurde der Gruppe der ältesten Kinder zugeteilt, den 5-jährigen. Meine kümmerliche 3-jährige Spanischausbildung, die mir im Gymnasium zuteil worden war, reichte anfangs kaum aus, um den Kindern das gegenseitige Erwürgen zu verbieten.

Meine Kindergruppe mit Educadora Cecilia und Tia Marianela
Hilflos musste ich immer wieder auf meine Mitfreiwilligen vertrauen, welche, da sie schon einige Zeit länger da waren, mehr Übung hatten. Doch schon nach ein paar Wochen merkte ich, wie ich mich immer besser verständigen konnte und mein Verdacht, dass eine Sprache, reduziert auf Bücher und Vokabeln, unmöglich zu erlernen ist, verstärkte sich.
Mehr noch als auf die Arbeit, war ich auf mein Haus und die WG gespannt. Aus vorherigem Facebook Kontakt mit meinen zukünftigen Mitbewohnern wusste ich, dass ich kein eigenes Zimmer haben würde. Hasste meine neue Zimmergenossin mich bereits, weil ich sie um ihr Einzelzimmer brachte? Hatte die WG schon einen festen Rhythmus, den ich als 5. Rad aus dem Gleichgewicht bringen würde und was, wenn ich die Einzige war, die nicht wusste, wie man Reis kocht ohne ihn anzubrennen zu lassen?
Auch hier waren meine Zweifel unbegründet. In Ava fand ich die beste Zimmergenossin, Freundin und Vertraute, die ich mir nur wünschen konnte. Teilt man ein Zimmer, gibt man auch noch den letzten Rest Privatsphäre auf, den man in einem so kleinen Haus wie unserem, hätte haben können.

Sonntagmorgen mit Karoline, Maruja und einigen Freiwilligen
Schnell bildeten wir ein Team und unsere langen Gespräche, die bis tief in die Nacht hinein dauerten, erschwerten so manchen Arbeitstag. Aber sie waren es wert. Lebt man so weit entfernt von allen Freunden und der ganzen Familie, braucht man die Menschen um sich herum. Man muss auf sie zählen können und Freunde zu haben, ist unabdinglich. Ava und ich wurden richtig gute Freunde, in dem ganzen Jahr tauschten wir die Zimmer nicht und brachen somit jeden Zimmergenossinnen-Rekord unter uns Freiwilligen.
Mit ihr, Ben und Desirée waren wir das Jahr hindurch ein Spitzen- Team. Wir stritten uns wie die Weltmeister. Vage erinnere ich mich daran, wie ich Töpfe durch die Küche schmiss oder Desirée und Ben Türen knallen ließen, was unser schon etwas betagtes Haus an den Rand des Zusammensturzes brachte. Aber im Großen und Ganzen war es eine gute Zeit und immer, wenn es darauf ankam, waren wir füreinander da und machten alle Krisen gemeinsam durch.

Die Siedlung rings um den Kindergarten „Naciente“
Die Arbeit war hart und das auf so viele Art und Weisen. Es war hart, jeden Tag eingepfercht in einem kleinen Raum zu sein und sich von 32 Kindern die Ohren vollbrüllen zu lassen. Es war hart, dir Lebensgeschichten von Eltern anzuhören und zu wissen, dass das Leben meiner Schützlinge genau so verlaufen kann, weil das System – oder einfach Pech – es nicht anders zulässt. Es war hart, jeden Tag alle Möbel und Tische raus- und wieder rein zu tragen, weil der Klassensaal nicht groß genug war…
Ich habe auch ganz sicher nicht jeden Tag genossen und manchmal wollte ich auch einfach nur im Bett liegen und einen Film schauen, doch nachträglich bin ich froh über mein Durchhaltevermögen.

Ich habe alle meine Schützlinge geliebt. In manchen Situationen gewiss weniger als in anderen, doch geliebt habe ich sie alle und es war wunderschön, dass ich jeden Tag bei ihnen sein durfte. Jetzt, nach so kurzer Zeit, vermisse ich sie immer noch wahnsinnig und lasse mir regelmäßig von den neuen Freiwilligen Fotos schicken. Mit den Kindern habe ich wieder gelernt, was es heißt, kleine Dinge wertzuschätzen, wie z.B. eine Puppe, gemacht aus einer Klopapierrolle. Ich habe mich für sie zum Affen gemacht und sie haben es mir mit ihrer Freundschaft und ihrem Vertrauen gedankt.

Feier zum Jahrestag der Gründung des Jardin Naciente: Die Kleinen haben Tänze vorgeführt und schwenken die Fahnen der Länder, welche den Kindergarten unterstützen
Die Menschen in Chile sind etwas Besonderes und ich ertappe mich immer wieder, wie ich hier in Europa nach dem lateinamerikanischen Temperament Ausschau halte. Kommt ein streunender Hund in die Kirche gelaufen, wird es als Gelegenheit genommen, mal wieder herzlich gemeinsam zu lachen und sogar der Pfarrer nimmt es mit Humor und lässt den frommen Neuankömmling unterm Altar der Messe beiwohnen.
Fragt man jemanden nach der Uhrzeit, kann es schon ab und zu mal vorkommen, dass die Gegenfrage kommt „Ist das denn wichtig?“ und wenn man um 01:00 morgens die unbändige Lust verspürt, seine Freunde zu besuchen, sollte man nur sicher stellen, genügend von dem guten chilenischen Wein mitzubringen und die Stimmung ist garantiert.
Ich habe in dem Jahr gelernt, meine Prioritäten neu zu ordnen. Mit meinen chilenischen Freunden ist mir wieder bewusst geworden, was Gemeinschaft wirklich bedeutet und wie unwichtig so manches ist, mit dem wir uns hier in Luxemburg den Kopf zerbrechen.
Man kann versuchen, es aufzuschreiben oder davon erzählen, aber wirklich nachvollziehen kann man es erst, wenn man es selber erlebt hat.
Für mich gibt es ein Davor und ein Danach. Es gibt ein „vor Chile“ und ein „nach Chile“. Es gibt mich, wie ich davor war und es gibt mich, wie ich jetzt bin. Manche Erlebnisse sind so einschneidend, dass sie deine Zeit teilen und Chile war ein solches Erlebnis.
Ich empfehle jedem, sich selbst auf die Reise zu machen und ein bisschen von der Welt und sich selbst zu sehen. Erst wenn man aus seinem Gemüsebeet rausgeht, kann man sehen, wie groß der Garten dahinter ist.
Dorothée Franzen